Die alte Frau und ihr treuer Gefährte

Eine Weihnachtsgeschichte aus Nordkirchen

 

Es war still auf den Straßen, leichter Schneefall hatte eingesetzt. Wie kleine Wattebäuschchen fielen die Schneeflocken lautlos auf die Erde und bedeckten sie mit einem weißen Mantel. Alles war einsam und ruhig, nur das Knirschen der Schuhe in dem frischen Schnee war zu hören. Nur noch wenige Menschen waren um diese Zeit unterwegs. Schließlich war Heiligabend und fast alle Menschen saßen um diese Zeit mit ihren Lieben zusammen, um dieses heilige Fest zu feiern. Fast alle Menschen! Heiligabend ist aber auch für viele der einsamste Abend im ganzen Jahr. Nicht nur arme, mittellose Menschen verbringen ihn im Freien unter Brücken oder in einfachen Behausungen, nein, auch alte Menschen ohne Angehörige und Freunde sind an Heiligabend oft alleine.

 

So erging es auch der alten Frau, die alleine die Bergstraße in Nordkirchen, einem kleinen Ort  im Münsterland hinunter zur St. Mauritius-Kirche ging. Aber ganz alleine war sie nicht. Ihr treuer Begleiter war seit vielen Jahren ihr alter grauer Rauharrdackel Maxi. Sie kamen an vielen Häusern vorbei, in denen die Fenster mit Kerzen und Lichterbögen festlich erstrahlten. Gemeinsam gingen sie durch die frische Winterluft bis zur Kirche, eigentlich wie jeden Tag. Der Weg fiel aber nicht nur der Frau schwer, auch Maxi hatte in seinem langen Hundeleben diesen Weg schon oft zurückgelegt und konnte mit seinen alten Beinen nur mühsam vorwärts kommen. Oft wartete die alte Frau auf ihren Hund, der alle paar Meter eine Verschnaufpause einlegen musste. Endlich hatten sie St. Mauritius erreicht. Noch war die Kirche geöffnet und warm von der Kinder- und Abendmesse, die von den Kinder- und Jugendchören in jedem Jahr festlich gestaltet wurden. Süßer Weihrauch- und Kerzenduft lag noch in der Luft. Beide gingen zum Mutter-Gottes-Bild mit dem Jesus-Kind auf dem Arm. . Vor dem Bild stand ein großer Kerzenständer mit vielen Kerzen, der das schöne Bild in einem wundersamen Licht erleuchtete. Auch die Frau stellte zwei Kerzen auf und kniete für ein Gebet auf der harten Holzbank nieder. Sie dachte an ihre Freundin, die im vergangenen Jahr nach einer bösen Krankheit gestorben war. Für die alte Frau war es die beste Freundin gewesen, die man sich vorstellen konnte. Seit frühester Kindheit kannten die beiden sich und hatten nie auch nur ein böses Wort gewechselt. Und jetzt war sie tot und hatte sie zurückgelassen. Nur ihr treuer Gefährte Maxi war ihr geblieben. Ihre Geschwister waren schon vor Jahren verstorben. Oft litt sie unter der Einsamkeit des Alleinseins, aber so schlimm wie an diesem ersten Heiligabend ohne ihre Freundin hatte sie es noch nie empfunden. Beide Frauen hatten ihre Männer im Kriege verloren und nicht wieder geheiratet. Nein, die Liebe zu ihnen war so groß und innig gewesen, dass keine zweiten Männer in ihrem Herzen Platz gehabt hatten. Also feierten die beiden Frauen seit vielen Jahren den Heiligabend gemeinsam. Unter dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum wurde von ihrer Freundin die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Für die alte Frau ist es die schönste Geschichte der Welt, und zum Schluss hat sie jedes mal feuchte Augen bekommen. Auch die vielen frohen und sinnlichen Weihnachtlieder wurden von den beiden Frauen mit Hingabe gesungen. „Freue Dich, oh freue Dich Du Christenheit...“ kam ihr sofort in den Sinn, und bei dem Gedanken in diesem Jahr allein unter dem Christbaum sitzen zu müssen und die schönen Weihnachtslieder ohne ihre Freundin singen zu müssen, wurde es ihr richtig schwer ums Herz. Sie verließ mit Maxi die Kirche und trat den Heimweg an.

Der Schneefall war stärker geworden und hatte alle alten Spuren verwischt. „So schnell ist von der Vergangenheit nichts mehr zu sehen, wie im richtigen Leben“, sagte sie zu ihrem Hund. „Lass uns schnell heimgehen in die warme und gemütliche Stube. Nicht wahr Maxi, auch wir werden etwas Weihnachten feiern.“

 

Sie gingen die Bergstraße hinauf. Eisiger Wind und kalter nasser Schnee schlugen der Frau und dem Hund entgegen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich ihr Haus erreicht hatte. In der Wohnung nebenan, wo ihre Freundin all die Jahre gewohnt hatte, war inzwischen eine junge Frau, Lena, eingezogen. Die alte Frau hörte die Stimmen von Männern und Frauen, sowie das Klirren von Gläsern. Glühweingeruch lag in der Luft. Moderne Musik tönte aus den Lautsprechern und lautes Gelächter war bis in den Flur zu hören. Die vielen Geräusche vertrieben die Stille, die sie und ihr treuer Gefährte auf dem Weg von der Kirche bis hierher genossen hatten. Wo war nur die festliche Stimmung geblieben, die sie als junge Frau früher an Heiligabend so erlebt hatte. Ihr fielen die schönen Stunden im Kreise ihrer Familie ein, als ihre Eltern und Geschwister noch lebten und sie gemeinsam diesen schönen Abend feierten. Ihr Vater spielte auf der Mundharmonika Weihnachtslieder, ihre Mutter begleitete ihn auf der Gitarre, und alle Kinder sangen begeistert dazu. Ihre Eltern hatten nie viel Geld gehabt und ihr Vater hatte viele Spielsachen aus Holz gebastelt. Ihre Brüder freuten sich über das neue Schaukelpferd oder über die Holzeisenbahn. Für die Mädchen hatte ihre Mutter Puppenkleidung in monatelanger Arbeit gehäkelt, als alle Kinder schon im Bett waren. Wie viel mehr freuten sich die Kinder früher über Kleinigkeiten wie z.B. selbstgestrickte Socken oder aber auch über Nüsse und etwas Schokolade. Die alte Frau fragte sich oft: „Worüber freuen sich heute eigentlich noch die Kinder? Der ganze Konsum in dieser neuen Zeit hat den Kindern und Jugendlichen doch die Augen verschlossen, sich überhaupt noch Gedanken über den Sinn des Heiligen Abends zu machen, ganz zu schweigen über sinnvolle Geschenke. Waren die Erwachsenen eigentlich besser in ihrer Einstellung zu diesem Fest?“

 

Sie hatte schon oft Gespräche mit angehört, dass Singen unterm Weihnachtsbaum ja völlig ‘out’ sei, wie es so schön in der Neu-Deutschen-Sprache der Jugendlichen hieß. Traurig über diese Tatsache schüttelte die alte Frau den Kopf und ging in ihre Wohnung. Sie trocknete ihren Hund Maxi mit einem Handtuch ab und zusammen setzten sie sich in das warme Wohnzimmer an den kleinen Weihnachtsbaum. Still hörte sie sich eine alte Langspielplatte mit ihren Lieblings-Weihnachtliedern an. Nach Singen war ihr alleine nicht zumute. Aus dem alten Sekretär ihres verstorbenen Vaters holte sie sich einen Karton mit alten Bildern. Maxi lag auf ihrem Schoß und gemeinsam schauten sie sich die alten Fotos an. Viele Erinnerungen an schöne Stunden wurden wachgerufen. Es klingelte an der Haustür!

 

„Wer mag denn um diese Zeit, und das gerade am Heiligabend, bei mir schellen?“ fragte sie sich.

Sie ging zur Haustür und als sie die Tür öffnete, war sie überrascht ihre junge Nachbarin Lena zu sehen.

„Guten Abend Frau Börger. Ich hatte vorhin schon einmal bei Ihnen angeschellt, aber da waren sie anscheinend gerade mit ihrem Hund spazieren.“

„Was kann ich für Dich tun, Lena?“ fragte die alte Frau.

„Meine Freunde und ich möchten Sie fragen, ob Sie nicht Lust haben, den Heiligabend mit uns zu verbringen? Darüber würden wir uns sehr freuen.“

„Das ist gut gemeint und nett von Euch. Aber ich glaube, Ihr möchtet doch lieber unter Euch  feiern“, entgegnete Frau Börger.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Kommen Sie doch bitte mit ‘rüber zu mir. Wir möchten gerne mit Ihnen diesen schönen Abend verbringen und auch von Ihnen etwas über die Bräuche des Heiligabends während Ihrer Kindheit erfahren. Bitte, bitte! Tun Sie uns doch diesen Gefallen und kommen und bringen auch Maxi mit, denn für ihn haben wir ein kleines Weihnachtsgeschenk.“

So eine nette Einladung hatte die alte Frau noch nie bekommen. So holte Maxi und ging mit zwiespältigen Gefühlen zu den jungen Leuten in die Wohnung von Lena. Sie war gespannt, was dieser Heilige Abend noch für Überraschungen mit sich bringen würde.

 

Als die alte Frau mit Maxi in das Wohnzimmer ihrer Nachbarin kam, war sie überrascht über den festlich geschmückten Raum. Nicht nur der wunderschöne Weihnachtsbaum mit richtigen Kerzen erstrahlte in all seiner Pracht, nein, auch die schönen Weihnachtsdekorationen, Gestecke und Engel schmückten den gemütlichen Raum. Leise Weihnachtsmusik untermalte diese festliche Stimmung. Besonders überrascht war sie von der wunderschönen Krippe, die mit Moos ausgelegt und unter dem Weihnachtsbaum mit viel Liebe zum Detail aufgebaut worden war. Auf dem Tisch stand ein Topf mit Glühwein und auch der Duft von heißem Grog stieg ihr in die Nase. Lena und ihre Gäste saßen um den Wohnzimmertisch und begrüßten sie freundlich. Einen bequemen Sessel hatte man extra für sie freigehalten, und daneben stand ein flacher Korb für Maxi, der mit einer weichen Decke ausgelegt war.

Ein junger Mann stand auf, nahm eine Bibel zur Hand und las: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.... Und jedermann ging sich schätzen zu lassen.“

Die alte Frau erkannte sofort diese Textpassage und wunderte sich doch sehr, die Weihnachtsgeschichte in diesem Kreise zu hören.

Hatte sie sich denn so vertan? fragte sie sich. Haben denn die jungen Menschen doch nicht den Heiligabend aus den Augen und aus dem Sinn verloren?

Als die Geschichte geendet hatte, wurden Zettel verteilt, auf dem Weihnachtslieder abgedruckt waren. Alle sangen die Lieder mit und wurden auf einem Keyboard von Lena begleitet. Nicht nur ein Lied, sondern viele bekannte Lieder mit allen Strophen wurden gesungen. Anschließend wurde noch eine moderne Weihnachtsgeschichte von einem der anwesenden Männer vorgetragen. Die Geschichte handelte von zwei Geschwistern, die sich zufällig nach der Trennung im Kriege Jahre später an einem Heiligabend wiedergefunden hatten. Allen Zuhörern standen nach dieser rührigen Geschichte Tränen der Freude in den Augen. Anschließend wurden Geschenke verteilt. Die alte Frau wunderte sich, dass die jungen Leute tatsächlich gewartet hatten, bis auch sie dazugekommen war. Dankbarkeit machte sich in ihrem Herzen breit und alle Traurigkeit über das Alleinsein an diesem Abend war verflogen. Maxi bekam einen dicken Hundekauknochen geschenkt und wedelte vor lauter Freude mit dem Schwanz. Auch Lena und ihre Freunde beschenkten sich gegenseitig. Plötzlich kam Lena auf sie zu und überreichte der alten Frau ein kleines Paket, eingepackt in wunderschönes Weihnachtspapier. Auf dem Paket lag eine Karte. Sie nahm die schöne Karte in die Hand und öffnete sie. In schöner Handschrift stand folgendes Gedicht geschrieben:

 

Wer Engel sucht

            in dieses Lebens Gründen,

            der findet nie, was ihm genügt.

 

Wer Menschen sucht,

            der wird Engel finden,

            der sich an seine Seite schmiegt.

                                                          

  Christoph August Tiedge

 

 

Frohe Weihnachten und alles Gute wünscht Ihnen, liebe Frau Börger,Ihre Nachbarin

Lena  

 

„Lena, eine sehr schöne Karte und ein wunderbares sinnvolles Gedicht. Danke!“

„Sie müssen aber auch noch das Paket aufmachen“, wurde die alte Frau ermuntert.

 

Vorsichtig öffnete sie das schöne Papier und eine kleine Schachtel kam zum Vorschein. In der Schachtel lag eine kleine Figur. Es war ein bronzener Engel mit ausgebreiteten Flügeln und segnenden Händen. Noch nie hatte die alte Frau eine so schöne Skulptur gesehen. Voller Dankbarkeit und Ergriffenheit stand sie auf und nahm Lena in den Arm und drückte sie fest an sich. Der Engel war das schönste Geschenk, das sie je in ihrem Leben bekommen hatte.

„Dieser Engel soll sie auf all Ihren Wegen beschützen“, sagte Lena zu ihr.

Vor lauter Rührung bekam die alte Frau kein Wort über die Lippen und Glückstränen liefen ihr über die Wangen. Welch eine Freude hatten ihr die jungen Leute mit diesem Abend bereitet.

 

Sie saßen noch lange zusammen, und die alte Frau erzählte von den Heiligabenden aus ihrer Kindheit. Sehr aufmerksam hörten Lena und ihre Freunde zu und hatten auch viele Fragen zu den Sitten und Bräuchen in der damaligen Zeit, die für sie so lange her schien. Der alten Frau kam es aber vor, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Sogar einen kleinen heißen Grog gönnte sie sich, den ihr Vater so gerne gerade an Heiligabend im Kreise seiner Familie genossen hatte.

Es war spät geworden und sie merkte, wie große Müdigkeit sie überkam. Maxi hatte inzwischen auf dem Schoß von einem der Männer ein gemütliches Plätzchen gefunden, und schlummerte schon lange zufrieden. Frau Börger nahm ihn vorsichtig auf ihren Arm und verabschiedete sich von allen, bedankte sich für die Einladung und besonders für die wunderschöne Statue.

 

Als auch sie endlich in ihrem eigenen warmen Bett war, lag Maxi zu ihren Füßen und träumte von großen Hundeknochen.

„Wie schön ist es“, sagte sie sich, „dass auch heute noch viele junge Menschen die alten Traditionen des Heiligabends und des Weihnachtsfestes fortführen.“ Sie dachte an die Weihnachtsgeschichte und hörte die Worte aus dem Lukas-Evangelium, die der Engel des Herrn zu den Hirten sagte: „Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. ...Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“

„Wie schön wäre es“, waren die letzten Gedanken der alten Frau, „wenn die Menschen in der heutigen Welt in Frieden, ohne Krieg, Leid, Elend und Hunger, miteinander leben könnten. Ich wünschte, dass es noch mehr so aufmerksame Engel wie meine Nachbarin gäbe.“

Voller Dankbarkeit für diesen wunderschönen Abend schlief sie friedlich ein.

 

 

Vergesst nicht,

GASTFREUNDSCHAFT zu üben,

denn ohne es zu wissen,

haben manche auf diese Weise

Engel bei sich aufgenommen.

                                   Hebräer 13,2    

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Hubert Kersting