Seltsame Pflanzen

Eine Pflanze hat einen Stiel,
Zweige, Blätter, Blüten.
Und das Wichtigste:
Eine Pflanze hat Wurzeln.
Die Wurzeln stecken tief in einem Stück Erde.

Ein Stück Erde.

Aber stell Dir vor:
Es gibt seltene Pflanzen
die ihre Wurzeln
zur gleichen Zeit
in zwei Stück Erde 
tief hineinsetzen.

In einem Stück Erde
ist eine dieser Pflanzen
geboren:
Die schöne Erde
der Kindheit.

Die Spiele, ihr Vulkan,
der See, die Freunde,
das Haus, die Liebe,
die Sonne des Südens,
der Regen am Fenster,
die Politik, die Diktatur,
die Angst, die Wut,
der Widerstand, der Knast.

Schwarz-weiß, schwarz-weiß,
ich kann nicht mehr,
ich kann nicht mehr,
ich muss weg...

Ein Sprung ins Leere.

In dem neuen Stück Erde
gibt es keine Vergangenheit,
die neue Erde ist fremd.
Die Pflanze ist seltsam
im Vergleich zu den anderen Pflanzen,
die Wurzeln haben.

Alle schauen unter die Erde:
Die neue Pflanze
erkennt man sofort,
weil sie keine 
Wurzeln hat.

Zwischen den zwei
Stücken Erde
liegt das große Meer.
Die Rückkehr ist unmöglich,
hier zu bleiben
scheint auch
unmöglich:

Alle schauen ständig
unter die Erde
- keine Wurzeln -
und über der Erde
- diese Pflanze ist merkwürdig,
so anders,
sie gehört nicht
hierher -

Die Zeit vergeht.
Die neue Erde wird
vertrauter,
die Insekten,
die anderen Pflanzen,
dulden diese exotische Wesen
und so wird sie auch
gesehen:

Exotisch,
mit einem Hauch Ferne,
diesem ständigen Geruch
nach Heimweh
und immer mit dem Kopf
Richtung Süden.

Nach und nach
bekommt die Pflanze
einige Wurzeln.

Das zweite Stück Erde
bringt eine neue Kultur,
eine andere Sprache,
die Liebe, ein Kind,
die Politik,
das Fremdbleiben,
fremdbleiben
fremdbleiben.

Und die Sehnsucht.

Dies ist die Gegenwart
und schon ein Stück 
Vergangenheit,
sogar.

Es gibt seltene Pflanzen
die ihre Wurzeln
zur gleichen Zeit
in zwei Stück Erde
tief hineinsetzen.

Eine dieser Pflanzen
bin ich.

(Isabel Lipthay)