TELGENGARTEN, DUSTERKAMMER UND BOHLENSTRASSE

GESCHICHTLICHE STREIFZÜGE ANHAND VON STRASSENNAMEN

Die Vergabe von Straßennamen.

Heute kann man es kaum glauben, aber in Nordkirchen gab es bis 1955 überhaupt noch keine amtlichen Bezeichnungen für die Wege und Straßen. Bis dahin bestanden die Adressen nur jeweils aus den Bezeichnungen Dorf, Altendorf, Piekenbrock und Berger, in Südkirchen und Capelle nur aus Dorf mit jeweils den entsprechenden Hausnummern. Diese hatte man schon zu Ende des 18.Jh. wegen der zu diesem Zeitpunkt allgemein verordneten Brandschutz-versicherung eingeführt. Bis Mitte der fünfziger Jahre wurde die Nummerierung in der Reihenfolge der Bauanträge vorgenommen. So hatten z. B. die letzten Häuser, die vor dem Krieg errichtet wurden: Rudolf Limberg (1937, heute Mühlenstraße 20) die Adressen Dorf Nr 135 und Willi Zimmer (1938;heute Zum Flothfeld 6) Dorf 136 Ähnlich war es in den Bauerschaften, nur dass hier die Häuser noch wesentlich weiter auseinander lagen und entsprechend schwer zu finden waren. Hier wurde eine systematische Nummerierung erst in den Achtziger Jahren im Zuge der Flurbereinigung vorgenommen. Die Briefträger kannten natürlich alle Einwohner, aber für Fremde muss es schwierig gewesen sein, zurecht zukommen.

Der Hintergrund der Benennungen.

Der Volksmund hatte für die Straßen und Wege schon eigene Bezeichnungen, auf die der Gemeinderat bei der Namenwahl häufig zurückgegriffen hat. Manchmal erkennt man aus ihnen, warum die Einwohner sie so genannt haben. Gelegentlich ist beispielsweise eine besondere Situation der Grund, wie beim Krampeneck bei dem das Haus Krampe in eine Straße hinein ragte oder aber auch eine Verwendung wie bei der Lämmerstraße, wo Tonius Berends an der Wiese nebenan damals seinen Schafspferch hatte und die Läm mer ihren Weg dorther nehmen mussten. Am Ringofen in Südkirchen hat es früher eine Ziegelbrennerei gegeben und die Flurbezeichnung Teigen(=junge Eichen)wiese in Capelle verweist darauf, dass dort in alter Zeit Eichenprößlinge herangezogen wurden.

Wenn auch vieles noch aus den volks tümlichen Bezeichnungen zu erklären ist, manches bleibt rätselhaft. Was steckt zum Beispiel hinter dem Namen Düsterkammer(Nordkirchen)? Das Wort Düster kommt unverändert aus dem Niederdeutschen und hat im Laufe der Jahrhunderte die Bedeutung dunkel, finster nicht geändert. Man findet es gelegentlich im Zusammenhang mit Gewässern, wobei es die unheimliche Wasserfarbe beschreibt. Düsterbecke, Düstersiepe, es gibt aber auch Düsterloh (loh = Wald). Kammer, eigentlich ein Raum in einer Burg oder einem Haus, wird in diesem Fall in übertragener Bedeutung gebraucht und bezeichnet ein in sich abgeschlossenes Gebiet, wie auch anders wo Kornkammer für ein besonders fruchtbares umgrenztes Areal bekannt ist. Vermutlich war die Düsterkammer ein ziemlich saures Stück Wiese, das von mehreren Seiten, jedenfalls vom Süden und Westen wegen der Bäume des Parks in tiefem Schatten lag.

Einfacher ist die Erklärung des Na mens der nahe der Düsterkammer ge legenen Bohlenstraße. Als im Jahre 1981 im Dorf die Gasleitung gelegt wurde, fand man dort unter der Pflasterung dicht an dicht schwere Holzbohlen. Dieser Fund spricht dafür, dass die Bohlenstraße früher, vermutlich vor der Errichtung des Schlosses und einer damit verbundenen neuen Straßenführung, der eigentliche Durchgang durch den Ort gewesen ist. Bei neuesten Schachtarbeiten stieß man auch in ihrer Fortsetzung, an der Lüdinghauserstraße auf Höhe der Völksbank, in 60 cm Tiefe (!)auf einen solchen Knüppeldamm. In Südkirchen, nahe der Kirche, wurden dort, wo der alte Pfarrhof gestanden hat ebenfalls solche Bohlen entdeckt. Offensichtlich waren jeweils die wichtigsten Straßen im Ortskern mit dem damaligen Mittel dem Holz nämlich, befestigt. 'Steinreich' war man hierzulande nicht. Im Gegenteil, Steine waren Mangelware und kamen daher als Belag nicht in Frage. Aber auch die dicken Bohlen waren nicht so leicht zu beschaffen. Bauholz gehörte dem Grundherrn und wurde nur in Ausnahmefällen und mit besonderer Genehmigung an Bürger oder Eigenbehörige abgegeben.

Straßen in früheren Zeiten.

Anders war es mit reisigem Holz, das mit einem Erlaubnisschein gesammelt werden durfte. Es wurde oft zum Ausflicken der schlechten Wege über Land, auch Communikationswege genannt, verwendet, eine Maßnahme, deren Wirkung allerdings nicht lange anhielt. Nicht nur die Nordkirchener Gegend, das Münsterland insgesamt war ein sehr feuchtes Gebiet, so dass der Bischof Friederich Christian von Plettenberg (1688-1706), der im Jahre 1694 die Herrlichkeit Nordkirchen kaufte und das Barockschloss bauen ließ, klagte ...daß die gemeine Heer- und Landstraßen im hiesigen Hochstift an vielen orthem dermaßen ohnbrauchbar, daß bei Winterszeit und feuchten Jahren ohnmöglich zu passieren, woraus soviel größeres Nachteill und Schade zuwachset daß die auswertige und fremde passanten, Kauf- und Handelsleute dadurch abgeschrecket, den Stift meiden und andere Wege suchen. Es war durchaus nicht selten, dass Pferdekarren im Morast umstürz ten oder steckenblieben. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden außerhalb der Ortschaften die Wege bis zu zehn Meter breit, weil die Fuhr werke die schlechten Stellen umgingen. Man versuchte, durch Aufschütten eines Dammes mit dem Aushub seitlicher Wassergräben Abhilfe zu schaffen, wie etwa beim Schwarzen Damm in Nordkirchen, aber ohne sorgfältigen Unterbau und eine wasserge bundene Decke erwies sich die Mühe bald als vergebens.

Den Landwirten oblag es, die an ihrem Land vorbei führenden Straßen in Ordnung zu halten, was hie , ie rä en zu reinigen und angrenzende Hecken zu beschneiden, damit Wind und Sonne die sumpfigen Stellen austrocknen konnten. Im 19. Jh. begann man, Straßenbäume zu pflanzen, einmal, um mit ihnen die Wege zu markieren, aber auch, weil deren Wurzelwerk die Nässe aufnahm und gleichzeitig die Erde zusammenhielt.

Napoleon war es, der die ersten schnurgraden Straßen von Kirchturm zu Kirchturm anlegen ließ, um für seine Truppen und deren Nachschub rascheres Vorwärtskommen zu ermöglichen. Die ersten Kunststraßen aber mit dem Versuch eines vernünftigen Aufbaus und einer weniger holprigen Decke wurden in unserer Gegend in der Mitte des 19. Jh. gebaut. Letztlich wurde jedoch erst für das Auto ein umfangreiches Verkehrsnetz geschaffen.Heute klagen wir über verstopfte Straßen, keiner aber braucht mehr mit Pferd und ungefedertern Wagen über eine Holzbohlenstraße zu rumpeln, und keiner braucht mehr zu stöhnen: Furcht und Grausen erregend sind die Wege in den Kleygegenden Westfalens.

Hildegard Schlutius in Nordkirchen life Juni 2001