DAS HUNGERTUCH VON CAPELLE

Das Hungertuch von Capelle

Smachtlappen oder Smachtlapperie sind Ausdrücke der plattdeutschen Sprache, die für den alteingesessenen Münsterländer durchaus noch einen gängigen Begriff decken.

Das Wortbild - hochdeutsch auch "Hungertuch" - geht auf spätestens mittelalterliches Brauchtum der Fastenzeit zurück. Johannes Emminghus hat in einer Doktorarbeit seine Entstehung kultisch zu deuten versucht. Danach ist seit Anfang der Menschengeschichte jeder religiöse Kult mit dem Zeichen des Geheimnisvollen umgeben, d. h. die Priester suchten diesen Eindruck zu erwecken und auf alle mögliche Art hervor zurufen. Das konnte u. a. auch durch einen noch so primitiven Vorhang erzielt werden.

So ist es verständlich, daß sich in den christlichen Kirchen, sowohl in den West- als auch in den Ostkirchen, ein "Verhüllungs- und Sichtbarkeitsritus" speziell bezüglich des Altarraumes ausbildete. Schon in gotischer Zeit bevorzugte jedoch die abendländische Kirche (im Gegensatz zum griechisch-byzantinischen Ritus) das Sichtbarmachen des Geheimnisses, den freien Blick auf den Altarraum, das Zeigen des Allerheiligsten in der Monstranz, die öffentliche Zurschaustellung der Reliquien der Heiligen in den Ostensorlen (Behälter oder Gefäße mit einem Fenster).

Nur in besonderen Fällen, und dann auch nur vorübergehend, wurde der Altarraum durch einen großen Vorhang - lateinisch velum - vor den Gläubigen verdeckt. Man denke an die noch heute übliche Verhüllung der Kreuze in der Passionszeit. Ein solcher besonderer Fall war

die Fastenzeit, die Zeit der Passion Christi. Darum heißt in der Kirchenspradie dieses große Tuch, das während der ganzen vierzig Tage den Altarraum vor den Blicken des Volkes verbarg, das "velum quadragesimale" (Tuch der 4o Tage).

Der Sinn dieser "Fastentücher", wie das Volk sie nannte, wurde in der Hauptsache darin gesehen, daß die durch das Fastenvelum nicht mehr mögliche direkte Teilnahme am heiligen Meßopfer für die Gläubigen ein Akt der Buße sein sollte. Weiter sollte das Velum dem Gläubigen seine durch die Sünde bedingte Unwürdigkeit klarmachen und ihn zur Buße auffordern. Gleichzeitig wurde durch das Velum aber auch symbolisiert, daß sich während der Leidenszeit Christi seine Gottheit in besonderer Weise verbarg. Schließlich sah man im Fastentuch, das mit seinem Aufhängen in drastischer Weise dem Volk den Beginn des großen Fastens und Hungerns - eben darum nannte der Volksmund es bald "Hungertuch" - verdeutlichte, eine Erinnerung an den Vorhang im Tempel zu Jerusalein.

Das Sehenwollen verstärkte sich. Man wollte auch in der Fastenzeit auf den Altar blicken können. So wurden die Fastenvorhänge kleiner, oder sie wurden höher gehängt. Sie wurden zu Tüchern, kleineren Tüchern - im Plattdeutschen: zu Lappen. Um ihren Sinn darzutun, wurden sie vorher im Münsterland aus schlichtem weißen Leinen angefertigt und mit Bildern und Symbolen der Passion Christi geschmückt. Das Tuch erhielt seinen Platz nicht mehr vor dem Altarraum, sondern über dem Altar oder gar hinter ihm. In einigen Kirchen wurde es so hoch unter der Kirchendecke angebracht, daß es den Blick auf die Vorgänge im Altarraum nicht mehr behinderte. Der Ausdruck "Lappen" macht die Verkleinerung besonders deutlich.

Mögen diese Hungertüdier in ihrer uns heute bekannten künstlerischen Form auch zuerst in den Nonnenklöstern angebracht worden sein, in der Zeit des 14. bis 19.Jahrhunderts waren sie jedenfalls allgemein auch in den Pfarrkirchen üblich. Wen nimmt es wunder, daß in unserem traditionsstarken Westfalen an diesem Brauchtum noch lange festgehalten wurde?

Dr. Paul Engelmeler kann in seinem Budie über die Hungertücher - herausgegeben i96i - noch von 32 vorhandenen Hungertüchern in Westfalen berichten. Dazu bringt er Fotos und Beschreibungen von 21 verschollenen oder verschwundenen Fastentüchern. Zu diesen zählt leider auch das Hungertuch zu Beifang Capelle.

Während in anderen Gebietstellen Deutschlands (der Verfasser erwähnt besonders die ziemlich geschlossene Gruppe der Hungertücher in Kärnten/Osterreich) die "Tücher" oft aus Leder und mit figürlidien Bildern bemalt waren, entwickelte sich im überwiegend katholischen Oberstift Münster - dem münsterländischen Teil des heutigen Bistums Münster - eine andere Art, die Tücher künstlerischer zu gestalten. Diese Art entsprang bäuerlichem Bereich. Flachsanbau, Leineweberei und textile Handfertigkeit waren Grundlage dieser sakralen Kunst. Aber auch der Volkscharakter mit seinem ausgeprägten Sinn für Ordnung und Klarheit, mit seiner Vorliebe für übersehbar symetrisch gegliederte Flächen entstanden die mannigfaltigen Formen der westfälischen Hungertücher.

Es sind in der Hautpsache Tücher aus bestem westfälischen Leinen, die als Filettücher gearbeitet sind. Dabei sind häufig die einzelnen Bilder durch schlichte Leinenstreifen miteinander verbunden.

Das Hungertuch von Capelle trägt die Jahreszahl i659. Diese Jahreszahl läßt m. E. folgenden Schluß zu:

Bürger aus dem zur Stadt Werne gehörigen Beifang Capelle brachten Idee und Motiv von einer Wallfahrt nach Telgte mit. Da die Pfarrkirdie erst Ende des 17- Jahrhunderts erbaut wurde, dürfte die Arbeit auch dann erst als Hungertuch darin Verwendung gefunden haben. Vielleicht war es Anfang und Symbol des gemeinsamen Wunsches und Strebens der Capeller, endlich wieder zur eigenen Kirche zu kommen. In der Zwischenzeit hat es vielleicht in der Pfarrkirche zu Werne oder in der Kapelle des Hauses Ichterloh gehangen. Telgte war übrigens da mals, wie auch früher schon, ein beim Volke angesehener Wallfahrtsort zur Verehrung der Passion Christi und der Schmerzhaften Mutter. Wie in Capelle war dieses Gnadenbild Anstoß und Vorbild zu Nachbildungen und Neuschöpfungen religiöser Volkskunst im bäuerlichen Münsterland.

Schließlich sei noch gesagt, daß die Formulierung im Buch über die westfälischen Hungertücher nach Mitteilung des Pfarramtes 1957 verschollen" irreführend ist. Denn sicherlich ist es, wie zum Beispiel das Telgter Tuch im Jahre 1907, aus der kirchlichen Benutzung ausrangiert' worden. In Unkenntnis seines Wertes oder gar in Mißachtung des nicht mehr Brauchbaren hat man es dann irgendwo hingelegt, vergessen und so ging es verloren. Das dürfte wohl besser formuliert sein als verschollen. Darunter versteht man doch ein Verschwinden außerhalb des eigenen Bereichs und ohne eigene Schuld.

Das Capeller Hungertuch ist ganz aus westfälischem Leinen gefertigt. In der Mitte hat es als Hauptbild die Kreuzigungsgruppe, zu beiden Seiten je zwei Nebenbilder. Alle fünf Bilder sind Filet-Stopfarbeiten, davon ist vor allem das Seitenbild oben links wie auch der Mittelteil des Hauptbildes stark zerstört. Die Gesamtbreite des Bildes beträgt 2,59 m, die Höhe 2,10m. Das Hauptbild enthält die Kreuzigungsgruppe mit Christus am Kreuze, der Gottesmutter und dem Apostel Johannes. Während die Kreuzesinschrift: J (Jesus), N (Nazarenus), R (Rex = König), J (Judaeorum) klar auf dem Foto zu lesen ist, läßt der zur Zeit der Aufnahme schön sehr starke Zerfall die in die Augen fallenden Buchstaben links und rechts des Korpus nicht mehr genau entziffern. Vielleicht gelingt es einmal einem Sachverständigen. Es könnte, wie auf verwandten Tüchern, sich um die Anfangsbuchstaben eines lateinischen Spruchs handeln. Es könnten aber auch die Namensinitialen der Stickerinnen oder des Stifters sein. Sonne und Mond sind dagegen oben links und rechts in den Ecken gut zu erkennen, ebenso die Jah reszahl 1659 . Widersprüchlich sind die im Buch von Dr. Engelmeier angegebenen Maße des Tuches. Die Maße werden durch das Foto nicht bestätigt; die der Kreuzigungsgruppe sind unverständlich. Ihre echten Maße dürften bei einer Breite von 86 cm und einer Höhe von 1,80m liegen.

Wie diese Kreuzigung sich in den Tüchern von Telgte und Everswinkel wiederfindet, so könnte bei den Seitenfiguren das Tuch der Servatii-Kirche in Münster als Vorlage gedient haben. Ihre Quadratische Form mit dem oval ausgezogenen Innenkreis ist in jedem der vier Seitenbilder die gleiche. Die Ecken sind durch Engelköpfchen ausgefüllt. Das obere Bild trägt das Namenszeichen JHS, das obere rechts MAR. Im unteren links sind die fünf Wunden Christi - "arma Christi' - dargestellt, im unteren rechts das Lamm als Symbol des geopferten Heilands.

Fraglich ist das obere Bild links. Engelmeier will darin ebenfalls eine Darstellung der "arma Christ" sehen.

Am Rande vermerkt sei, daß auch die gemeinsame Zierleiste der fünf Bilder einen deutlichen Hinweis auf das Telgter Hungertuch darstellt. Es wäre zu schön für unser an solchen Schätzen sicher nicht überreiches Capelle, wenn sich eines Tages das "verschollene" Hungertuch wiederfinden würde.