Die Prinz Heinrich-Fahrt

von Bernhard Rips

Was war das ein Großereignis für Nordkirchen und Umgebung vor nunmehr 90 Jahren. Es gibt kaum einen Nordkirchener, der davon nicht schon mal gehört hätte.

Am 06. Juli 1911 war Schloß Nordkirchen Etappenziel der Prinz Heinrich-Fahrt, eine Veranstaltung der Automobilclubs von England und Deutschlands. Tags zuvor waren in Bad Homburg 65 Fahrtteilnehmer gestartet und hatten eine erste Tagesstrecke bis Köln zurückgelegt. Die Ausrichter dieser Automobil-Demonstration hatten keine Mühen gescheut, um der neuen Sportart zu großem Erfolg zu verhelfen. Entsprechend der Zusammensetzung des internationalen Feldes ging die Fahrt-Route über Münster nach Bremerhaven, wo die Fahrzeuge auf Fährschiffen nach Southampton übersetzten.

Als prominentester Fahrer am Steuer seines grünen Benz beteiligte sich Prinz Heinrich von Preussen, der ältere Bruder des damaligen deutschen Kaisers Wilhelm II. Er führte das Feld vonhochstehenden Persönlichkeiten in ihren wertvollen Automobilen an, unter ihnen der Besitzer des Schlosses Nordkirchen, seine Durchlaucht der Herzog Engelbert von Arenberg. Dieser hatte zum Zwischen-Aufenthalt auf seinem hochherrschaftlichen Wohnsitz eingeladen. Gleichzeitig nahm er die Gelegenheit wahr, ein großes Fest für die Nordkirchener Bevölkerung, ja für den gesamten Kreis Lüdinghausen auszurichten. An den Vorbereitungen für das Jahrhundert-Ereignis waren sämtliche Nordkirchener Vereine, die Gemeindeverwaltung, alle Berufsgruppen sowie die Bediensteten der Schloßverwaltung beteiligt. Aus den Oberförstereien in Clemenswert, Oberkail, Haltern, Schleiden und Nordkirchen wurden uniformierte Forstbeamte als Ordnungspersonen angefordert. Die Gesamt-Organisation lag in Händen von Oberförster Unfried, genannt 'Der Jägermeister'. Es wurde ein Fest der Superlative. Der Herzog ließ sich nicht lumpen - nach Zeitungsmeldungen sollen die Kosten für Bewirtung der Gäste um RM 150.000,- betragen haben. Automobile galten vor 90 Jahren noch als Luxus-Artikel, ihre Entwicklung steckte noch in den Kinderschuhen. Es ist wohl erstaunlich, dass lediglich 3 Wagen des konkurrierenden Feldes wegen Defektes am Fahrzeug vorzeitig aufgeben mußten. Prinz Heinrich von Preussen war Mitbegründer und begeisterter Förderer des Kaiserlichen Automobilklubs.

Die Fahrt-Teilnehmer waren gegen 8.00 Uhr zu der ca. 220 km langen Strecke gestartet. Auf dem Wege über Düsseldorf nach Nordkirchen hatten die Dörfer und Strassen reichlich Festschmuck angelegt. Die Bevölkerung freute sich, so vielen prominenten Persönlichkeiten hautnah zuwinken zu können. Daher zeigte die Uhr bereits 12.30 Uhr, als der Wagen des Prinzen Heinrich die Ortsgrenze erreichte. Das Dorf erstrahlte in Flaggenschmuck, Girlanden und Blumenkränzen. Überall sah man nur fröhliche Gesichter. Unter tosendem Beifall sprach Herr Wilhelm Tennhof herzliche Begrüßungsworte im Auftrag der Gemeinde Nordkirchen. Fräulein Rengshausen überreichte einen leuchtenden Blumenstrauss und trug gemeinsam mit noch drei Mädchen folgendes Willkommensgedicht vor:

Es hält am heutigen Ehrentage

Königliche Hoheit ein froher Kreis umringt

Und jeder aus der Festesrunde

dem Zollernsohn ein 'Willkomm' bringt.

So eile n Königliche Hoheit auch entgegen

Nordkirchens Bürger groß und klein,.

Und Zeugensind hier aller Mienen

Wie wir uns dieser Ehre freu'n.

Eure königliche Hoheit zu begrüßen

Zum ersten Mal in unserer Mitte,

Und uns dem Festzug anzuschließen

Mit frohem Mut nach Deutscher Sitt'.

Königliche Hoheit nehmen der Liebe Zeiten

Allgnädigst heute von Uns hin:

Entzückt den Blumenstrauss wir reichen

Unserm Prinzen Heinrich mit frohem Sinn.



Auf dem Schloßplatz hatte sich inzwischen alles auf den Empfangvorbereitet. S.D.der Herzog von Arenberg war vorausgefahren und hatte mit seiner Familie auf der Freitreppe Aufstellung genommen. In den Alleen warteten die Schüler aller Klassen auf das Ereignis. Die Schulleitung hatte für sämtliche Kinder schulfrei angeordnet. Auf dem Schloßpatz bildeten die Veteranen des Kriegervereins, die Bürgerschützen sowie die Schloß-Feuerwehr Spalier. Bei strahlendem Sonnenschein präsentierte sich die gesamte Schloßanlage als Ausdruck von Lebensfreude, die für einige Stunden in Nordkirchen verstärkt eingekehrt war. Das Betreten des Innenhofes war nur den Fahrern, ihren Begleitern sowie den geladenen Gästen erlaubt. Um die 600 persönliche Einladungen hatte dar Herzog ausgesprochen. Darunter waren die Oberbürgermeister der benachbarten Städte wie Münster, Dortmund und Hamm, dazu Verwaltungsbeamte, Militärs, Kommunalbeamte, die Geistlichkeit, Justizbeamte, Politiker un,d Abgeordnete. Eine große Anzahl von Gästen bildete auch die Gruppe des Adels und Hochadels, teils aus verwandschaftlichen Verbindungen, die mit ihren Damen und Begleiter dem Ruf das Herzogs folgten und ihm ihre Loyalität zum Ausdruck brachten. Den Ehrengästen wurde ein Schleifchen überreicht, damit sie sich im Schloßhof aufhalten und ausweisen :konnten. Für das leibliche Wohl der Anwesenden war reichlich gesorgt. Das Buffet lieferte der Breidenbacher Hof in Düsseldorf, der herzogliche Weinkeller stand den Gästen nach Bedarf, zur Verfügung. Für die Chauffeure.und die Mannschaften vom Ordnungsdienst war auf der Westwiese gedeckt. Die Gastwirte Herren Lücke und Tennhoff hatten es verantwortlich übernommen, für ausreichenden Nachschub zu sorgen und die Beköstigung sicherzustellen. Eine große Zahl von Ehrengästen war mit dem Zug angereist. Im Pendelverkehr konnten sie die eigens von der Festleitung eingesetzten Autos und Kutschen zum Transfer nach Nordkirchen benutzen. Die Reisenden vom Bahnhof Mersch trafen über die Ascheberger Strasse im östlichen Schloß-Aussengelände ein. Damit sie nicht zusammen mit den Merschern einen Stau verursachten, wurden die vom Bahnhof Dülmen.eintreffenden Gäste in der Lindenallee abgesetzt.

Sechs Förster standen seiner Königlichen Hoheit und seinen zwei Söhnen auf der Außentreppe das Schlosses zur Verfügung. Sie begleiteten die Prinzen jedesmal, wann sie den Innenbereich des Schlosses verließen, um auf die Wiesen zu gehen, wo das Volksfest stattfand. Nur vom Gesamtleiter Unfried persönlich hatten die Forstbeamten Befehle entgegenzunehmen.

Nach der Mittagspause bot sich den Auswärtigen reichlich Gelegenheit, Aussenanlagen und Schloßinneres zu besichtigen. Geheimrat Professor Erler von der Universität-Münster führte die Teilnehmer durch das Schloß, Aus seiner Feder stammt im übrigen die Festschrift zur Prinz-Heinrich Fahrt 1911 mit einer ausführlichen Schilderung der Geschichte der Herrschaft und das Schlosses Nordkirchen. Der Autor berichtet über die Vorbesiter und die wechselvollen Ereignisse in den vergangenen Jahrhunderten.

Der Herzoglich-Arenbergsche Kabinettsrat Or. Aistermann sowie Justitiar Ellerbeck waren, die Autoren das Beitrages "Beschreibung des Schlosses und des Parks von Nordkirchen 1911". Diese Schilderung gilt auch heute noch als aktuell. Sie ist ebenfalls Bestandteil der alten Festschrift, die noch gelegentlich in Nordkirchener Familien zu finden ist.

Im Jahre 1903 erwarb der Herzog Engelbert von Arenberg das wunderschöne Wasserschloß mit den weiträumigen herrlichen Parkanlagen. Nach der Inbesitznahme wurden umfangreiche bauliche Veränderungen an.Gebäuden und Park vorgenommen. Als Schloßherr war es seine Absicht, den Bekannten- und Freundeskreis seine neuen Errungenschaften nahazubringen. So nahm er die Gelegenheit damals wahr, anläßlich.des Großereignisses eine hochkarätige Gästliste zu erstellen und stolz den neuen Besitz zu präsentieren. Dazu hatte er sicherlich auch allen Grund. Das Schloß mitsamt Park ist an größe.und Schönheit kaum zu übertreffen.

Etwa 3 Stunden dauerte der Aufenthalt auf dem Schloß Nordkirchen, dann machten sich die Fahrer wieder auf den Weg.Das nächste Etappenziel war Münster, wo ihnen ebenso.ein stürmischer Empfang bereitet wurde.

In Nordkirchen waren die geladenen Gäste inzwischen auf das Volksfest eingestimmt. Der lustige Teil der Veranstaltung konnte beginnen.Es war Vorsorge getroffen worden auch mehrere Tausend Menschen mit Speis und Trank zu versorgen.In Restaurationszelten auf der Rennbahn und der Waschhauswiese floß das Bier in Strömen. Fast jedem Wirt aus dem Dorf stand eines dieser Zelte zur Verfügung. Den ortsansäsigen Kaufleuten kam dieser Verbrauchs-Schub sehr zustatten und jeder war bemüht, von dem Gesamtkuchen ein möglichst gutes Stück abzubekommen. Solche Größenordnung waren sie nicht gewöhnt. Es blieb ihnen nichts anderes über, als die Kollegen in den Nachbarorten um Unterstützung zu bitten.

Zusammenfassung:

Die Metzgereien Neuhaus (N), Hörstrup (LH) Angelkort (LH), Wiedei Davensberg und weitere lieferten insgesamt für die Bratauflage an Fleisch- und Wurstwaren, Trockenschinken, Plockwurst und Frischfleisch 3.885 Pfund.

Aus den Bäckereien Westermann (N), Roggenkamp(N), Kock(S), kamen insgesamt an Brötchen 5000 Stck., Weißbrot 956 Stck. Kuchen17 Tafeln, Graubrot 81 Stck. und Schwarzbrot 16o Pfd.

Die Nordkirchenr GastwirteLücke, und Westermann verkauften an Getränken Selterswasser + Limonade 2035 Flaschen

Der Kaufmann TheodorBeisch hatte angeboten als Brataufstrich Butter 330 Pfund. Außerdem Käse Holl. 66 Stck., Schweizer 20 Stck. und Milch 135 Liter

Frau Gertrud Heinrichs besorgte für die Kinder Schokolade 5 Kisten, Bonbons 25 Pakete.

Den Lädchen Bäcker auf dem Pläsken, Franz Kersting, Lüdinghauser Strasse, Ww. Thies, Bergstrasse und Heinrich Vieth ist zugefallen, den Kaffee zu Liefern. Kaffee geröstet und amahlen 100 Pfund. Außerdem den Würfelzucker 150 Pfund

Dann sind noch die Bierverkäufe aufgeführt: Die Gastwirte, aus Nordkirchen Westermann, Lücke, Degelmann, Heinrichs, Conrad, Tuschmann und Th.Tennhoff hatten jeder Auftrag zur Lieferung und Ausgebe von Bier erhalten. Durch ihre Lieferanten Einhaus und Möllerfeld in Lüdinghausen sowie die Germania-Brauerei in Münster wurde nach Bedarf direkt zum Fest-Platz angeliefert. Die Endabrechnung1autete auf insgesamt 189 Hektoliter Bier.

Zum Vergleich: Während der drei Tage eines Schützenfestes in Nordkirchen laufen ca. 30 Hektoliter Bier durch die Zapfhähne des Zeltverleihers. Man kann sich fast nicht vorstellen, was für eine große Menge Alkohol durch die durstigen Kohlen der Schloßbesucher geflossen ist.

Der Jägermeister Unfried und seine Hilfskräfte hatten zur Vorbereitung der vielseitigen Volksbelustigung ganze Arbeit geleistet.Die Veranstaltung war perfekt organisiert. Für den Wasserbedarf auf der Festwiese (zum Kochen und Spülen sowie für die Pferde) legte man auf der Rennbahn einen 25 Meter tiefen Röhrenbrunnen an. Das Wasser wurde mittels einer Pumpe gefördert. Zur Benutzung für das Publikum fertigten die eigenen Leute Tische und Bänke aus Holz an. Der Vorrat an Fahnen für den Schmuck in den Hausfarben Rot-Gold reichte nicht aus. Die Schneiderinnen im Dorf lieferten den erforderlichen Nachschub. Für die hohen und höchsten Herrschaften und Ehrengäste stand eine Tribüne zur Verfügung. Unmittelbar daneben war ein Podium errichtet für die Musikkapelle und ein Raum zur Ausstellung der Ehrenpreise. Selbst die Frage nach Toiletten für so viele Menschen hatten die Schloß-Zimmerleute zur Zufriedenheit gelöst.

Als Festgelände für Groß. und Klein dienten die Rennbahn und die Waschhauswiese, letztere als Kinderspielplatz. Hier waren Kletterstangen errichtet. Das Besteigen wurde mit Preisen honoriert.Die Kinder konnten wählen zwischen 2 Karussels. Unter Aufsicht der Lehrpersonen.wurden Wettspiele wie Sackhüpfen, Eierlaufen und Ballspiele durchgeführt, Am Glücksrad und Würfelbude konnten Alt und Jung ihr Glück versuchen. Kinematographische Vorführungen fanden abwechselnd für Erwachsene und Kinder statt. Zur Darstellung gelangten Bilder aus der vaterländischen Geschichte, Armee und Marine.Auch die Schaubuden boten ihr Programm an: Kraftmesser (Haut den Lukas) und Kölner Hänneschen-Theater. Die größeren.Kinder waren eingeladen, sich an den Erwachsenen-Wettbewerben zu beteiligen. Hier wurden Diszipli nen für Fahrradfahren, Wettlaufen, Knobeln, Kegeln und viele andere angeboten. Für eine Plazierung waren beachtliche Preise zu gewinnen. So bekam der Sieger des Wettlaufens (Südkirchener,-Strasse, Baakenbusch, Tiergartenallee) einen Preis von RM 10,- in bar, der Erste beim Radfahren immerhin RM 15,- ausbezahlt. Es war der Ermener Bernhard Phillipp, der diesen Preis mit nach Hause nehmen durfte.

Ein Problem entstand bei der Unterbringung der zahlreichen Pferde und Kutschen. Zum Programm des Nachmittags war nämlich ein großes Pferderennen angestzt. Die Auschreibung und Anmeldung lautete auf Pferde aus Nordkirchen bzw. aus dem Kreis Lüdinghausen, je nach Wettbewerb. Die Zu- und Abfahrten sowie die Abstellmöglichke.iten waren gut ausgewiesen. Lediglich das Sammeln und Vorführen bereitete den wenig an die besonderen Wettkampfbedingungen gewöhnten Pferden einige Schwierigkeiten. Schließlich handelte es sich um Ackerpferde, meistens aus bäuerlichen Betrieben, die Tag für Tag auf den Feldern ihre schwere Arbeit verrichten mußten.

Die Pferderennen auf der geschmückten Rennbahn fanden größtes Interesse bei der überwiegend ländlichen Bevölkerung. Es waren 9 Rennen mit je 10 Pferden und Reitern die um die Ehre, aber auch um das Geld ritten. Die Rennkommision unter der Leitung von Herrn Piekenbrock hatte alle Hände voll zu tun. Da sich fast alle Teilnehmer persönlich kannten, kam es auch zu echten Rivalitäten. Manchmal saßen die Jungfrauen und Bräute auf der Tribüne; da wollte man besonders gut abschneiden. Startgeld wurde nicht erhoben.

Die Ergebnisse:

1. Rennen Heinrich Schäper aus Nordkirchen

2. Rennen Wörmann aus Selm

3. Rennen Heinrich Langermann aus Selm

4. Rennen Heinrich Baumeister, Nordkirchen

5. Rennen Heinrich Baumeister, Nordkirchen

6. Rennen Heinrich Reher, Nordkirchen

7. Rennen Lenfers, Senden

8. Rennen Kamphaus, Selm

9. Rennen Rolf aus Capelle.

Weitere plazierte Teilnehmer aus Nordkirchen:

Große-Böckmann, Schlütermann, Schulze Kalthoft, Möllmann, Wiemann, Lücke, Piekenbrock, Schulze Weischer, Große Holz, Schulze Everding, Bitter, Wittkamp, Lütke Handrup, Beerens, Stattmann, Heinrichs, Stuttmann, Schulze auf'm Hofe, Tennhoff, Schlüter, Kleimann, Roter und Nauhaus.

Einige der errungenen Trophäen befinden sich noch heute in Nordkirchener Familien. Nach dem Pferderennen brachten die Bauern ihre "Champions" nach Hause in den Stall und der Abend ging erst richtig los. Tags danach wird.manch lustger Zecher sich von einem Kater nicht

hat trennen können.

Es war nicht das erstemal, daß die Nordkirchener Bevölkerung beim Herzog zu Gast sein durfte. In einer ähnlichen Freiluftveranstaltung im Jahre 1905, hatte er der Nordkirchener zur Feier seines Einzuges in das Schloß eingeladen, mit ihm seine Einbürgerung zu feiern. Das nächste Ereigngnis sollte jedoch nicht lange auf sich warten 1assen. Der Herzog Engelbert pflegte eine gute Freundschaft mit Seiner Majestät den Kaiser von Deutschland, Wilhelm II von Preussen.Wir haben Information, dass bereits im Jahr 1910 anläßlich der Weltausstellung in Brüssel der Kaiser einer Einladung in das Herzogliche Palais gefolgt ist. So wurde ein Termin für das Jahr 1914 für einen Offiziellen Besuch des Kaisers in Nordkirchen geplant. Leider ist daraus nichts geworden, da der I.Weltkrieg ausgebrochen war.