Ein unliebsames Thema, weiß die Historikerin Sabine Alfing. Oftmals ruft dieser Teil der deutschen Geschichte bei den Zuhörern heftige Reaktionen hervor. Ihr Vortrag im Rahmen der VHS stieß bei den Nordkirchener Bürgern auf große Resonanz. Viele, vor allen Dingen ältere Menschen - Zeitzeugen - kamen, nicht um nur zu hören, sondern auch um sich einzubringen und mitzudiskutieren.
"Neben dem Staatsarchiv Münster und dem Gemeindearchiv ist viel im Archiv des Schlosses Nordkirchen - eines des größten Adelsarchive Deutschlands - zu finden", erläutert Sabine Alfing ihre Herangehensweise. Die meisten Informationen und die tiefsten Einblicke habe sie durch Interviews mit Zeitzeugen gewonnen.
Basis für Nationalsozialisten?
Die Wahlergebnisse aus den Jahren 1930 und 1933 zeigen, daß die Basis für den Nationalsozialismus in Nordkirchen, Südkirchen und Capelle nicht allzu breit war. 1930 stimmten in Nordkirchen 46 Bürger für die NSDAP, 637 für das Zentrum (eine katholisch-konservative Partei). In Südkirchen votierten nur 12 Bürger für die NSDAP und 556 für das Zentrum. In Capelle gaben 17 Bürger ihre Stimme der NSDAP und 301 dem Zentrum. Auch 1933, als die Nationalsozialisten bereits die Macht an sich gerissen hatten, sah es in der Schloßgemeinde nicht viel anders aus. Die religiöse und und vor allem katholische Bevölkerung Nordkirchens und des Münsterlandes unterstützte das Zentrum.
Reichtagswahl 1933
Bürgerstimmen
Nordkirchen
NSDAP 215
Zentrum 528
Südkirchen
NSDAP 160
Zentrum 514
Capelle
NSDAP 97
Zentrum 231
Die Nationalsozialisten wirkten auf die Bürger in erster Linie wegen ihrer Ablehnung gegenüber Kirche und Religion abschreckend. In der Nationalzeitung vom 23.71933 hatten die Nationalsozialisten gegen die Kirche agiert und sich somit unbeliebt gemacht.
Ein kleines Stückchen Heldentum
Natürlich gab es auch in der Schloßgemeinde Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung, Beflaggung, Fackelzüge, Spitzelei und Denunziation.
Doch gab es auch das genaue Gegenteil. Eine dreiköpfige jüdische Familie aus Ahlen befand sich in Nordkirchen. Als man schon von Deportationen gehört hatte, warnte ein Bauer die Familie mit den Worten: Wenn sie Euch wegbringen wollen, geht nicht mit, man hört nichts Gutes.
Als es schließlich so weit war, versteckte der Bauer die Familie zunächst auf seinem Hof, später kamen sie zu andern Bürgern nach Südkirchen, Herbem und Werne. Frau und Kind konnten sich frei bewegen. Der Mann mußte versteckt werden, da die männliche Bevölkerung fast komplett als Soldaten eingezogen worden waren. Ein Mann wäre daher aufgefallen. Die Frau, heute heißt sie Marga Spiegel und lebt in Münster, hat ihren Rettern lange Zeit später in einer jüdischen Gedenkstätte in jerusalem ein Bäumchen gepflanzt. Später schrieb sie sogar ein Buch über ihre Erlebnisse.
Behörden und Schulen
Der damalige Amtsbürgermeister von Nordkirchen war wohl überzeugter Nationalsozialist und SA-Truppführer. Im Zuge der Entnazifizierung wurde er seines Amtes enthoben, verhaftet und sein Vermögen entwendet. Auch die Bürgermeister von Südkirchen und Capelle wurden zunächst ihrer Ämter, aber nach dem Krieg wieder eingesetzt. Sie waren wohl nur pro Forma in der Partei. Sie erhielten Fürsprachen aus der Bevölkerung und
den neu gewählten Gemeindevertretungen.
Die meisten Lehrer haben die Entnazifizierung ebenfalls überstanden. Lehrer wurden auch als Werkzeuge der Partei benutzt. Eine Lehrerin wurde von den Nationalsozialisten in den Ruhestand geschickt, weil sie angeblich schwerhörig war. Tatsächlich aber war sie den Nationalsozialisten zu katholisch. Zwei Le rerinnen hatten nach dem Krieg Probleme, wieder eingestellt zu werden. Auch sie erhielten Fürsprache von dem jeweiligen Hauptlehrer, dem Kirchenvorstand, 40 Zeugnisse aus der EIternschaft, von ehemaligen Kollegen.
Zwangsarbeiterlager
Auch in Nordkirchen gab es Lager für Zwangsarbeiter. Da die meisten Männer eingezogen und im Krieg waren, mußten Leute für die Arbeit auf den Höfen her. In Nordkirchen wurden 24 benötigt, in Südkirchen 20 und in Capelle 17 Es gab strikte Regeln, wie die Bevölkerung - genau wie mit luden - umzugehen hatte. Es durften ihnen keine Lebensmittel verkauft werden, man hatte den Kontakt zu meiden, etc.
Im August 1943 zeigte eine Bauerstochter den serbischen Zwangsarbeiter ihres Hofes, der schon 1,5 Jahre dort tätig war, wegen Vergewaltigung an. Sie war schon hochschwanger. Ihr eigener Mann konnte nicht in Frage kommen, da er seit Oktober 42 nicht mehr in Nordkirchen gewesen war. Der Serbe allerdings beteuerte, es sei einvernehmlich gewesen. Wenn dem so gewesen wäre, hätte sich die Tochter der Rassenschande strafbar gemacht und Gefängnis zu befürchten gehabt. Einen Tag nachdem sie Anzeige erstattet hatte, erhängte sich die Tochter.
In Waltrop befand sich ein zentrales Entbindungslager für Ostarbeiterinnen. Bei 1140 Geburten waren 490 Todesfälle zu verzeichnen. Die Säuglingen wurden aber nicht etwa vergiftet, sondern vielmehr vernachlässigt. Die Leitung dieses Lager hatte Ärztin Hartmann, die damalige Leiterin der Lungenheilstätte Nordkirchen, heute Kinderheilstätte, inne.
Denunziation
Es war auch in Nordkirchen gefährlich, öffentlich seine Meinung zu sagen, gegen die Programmatik der Nationalsozialisten. Auch hier gab es Spitzelei und Denunziation.
Im Jahr 1943 befand sich ein Nordkirchener Soldat auf Heimaturlaub zu Hause. Bei einem Bier an seinem Stammtisch sagte er: 'Der Krieg ist verloren'. Am Tag darauf wurde er verhaftet, kam bei Ehrverlust erst ins Gefängnis und wurde später in einem Konzentrationslager erschossen.
Eheschließungen, Jugendorganisationen und Mutterkreuze
Seit dem 3. Juni 1936 erhielt jedes Ehepaar bei seiner Hochzeit das Buch mein Kampf was aber von den Bürgern fast nie gelesen wurde.
Die Erfassung der Kinder in die Organisationen Jungvolk, Hitlerjugend und Bund deutscher Mädel ging in der Schloßgemeinde eher zögerlich voran - außer in Capelle, hier waren die Kinder fast vollständig erfaßt. Innerhalb der Partei wurden Klagen laut, daß die Organisationen hier zu wenig Mitglieder hätten. Eltern, deren Kinder nicht erfaßt waren, wurden daraufhin gemeldet und verwarnt. Viele Mütter und Väter wollten ihre Kinder gar nicht in die Verbände der Nationalsozialisten schicken.
Die Mutterkreuze - eine "Zuchtprämie' für 'deutschblütige, erbtüchtige und der Auszeichnung würdige" Frauen mit vielen Kindern (4-5, 6-7, 8 oder mehr Kinder) - wurden in Nordkirchen auch nicht in Anspruch genommen. Obwohl Kinderreichtum durchaus vorhanden war, meldeten sich in Nordkirchen nur 16, in Südkirchen 14, in Capelle allerdings 32 Mütter für die Auszeichnung.
Spitzen der Nationalsozialisten in der Schloßgemeinde
Im Schloß Nordkirchen befand sich von 1933 bis 1945 eine Gauleiterschule. Hier wurden Lehrgänge für die potentiellen Nazi-Größen abgehalten. In der Gemeinde hat man davon aber nicht viel gemerkt, da sich die Gauleiter nicht unter das Volk gemischt haben.
Am 16. Juni 1939 spielte sich in Nordkirchen und Capelle ein Großereignis ab. Die Fahrt der alten Garde (Hitlers älteste Getreue) machte hier Station. Da galt es natürlich, die Straßen herauszuputzen.
In Nordkirchen wurden insgesamt 10.428 und in Capelle 2.167 Reichsmark Ihr diesen Tag ausgegeben - für damalige Verhältnisse enorm viel Geld. Häuser wurden abgerissen, neu gestrichen. Die Bevölkerung hatte sich an den Straßenrändern einzufinden und zu jubeln. Die Südkirchener mußten nach Nordkirchen oder Capelle kommen. Die Schulkinder hatten an diesem Tag extra frei.
Kirche im Nationalsozialismus
Auch im Klerus scheint es nicht den größten Wiederstand gegeben zu haben. Der Südkirchener Pfarrer tut sich hier hervor. Es gab damals sozusagen zwei Schulen in Südkirchen - eine Grundschule und eine Schule, ein Raum für Jüngere, in der Küsterei. 1937/38 wollte der Pfarrer der politischen Gemeinde das Nutzungsrecht versagen und in diesen Räumen Religionsunterricht geben. Der Raum sollte für Treffen der Hitlerjugend genutzt werden und der Pfarrer wollte dies verhindern. Der Landrat schritt daraufhin ein und untersagte dem Pfarrer das Betreten des Raumes.
Kriegsschäden in der Gemeinde, Kriegsende 1945
Nordkirchen blieb fast unversehrt, hier gab es keine 'kriegswichtigen" Ziele. In Nordkirchen gab es in diesem Zusammenhang einen Toten zu verzeichnen, ein Haus wurde zerstört und zwei beschädigt. Aus Südkirchen ist gar nichts bekannt. Capelle allerdings bekam ein bißchen mehr ab. Der Bahnhof war nämlich ein 'kriegswichtiges' Ziel. Fünf Tote aus der Zivilbevölkerung und vier Tote Soldaten waren zu beklagen.
Am Karfreitag 1945 war hier der Krieg zu Ende. In Nordkirchen marschierten die Amerikaner von Lüdinghausen, in Südkirchen von Selm und in Capelle von Herbern ein. Darauf folgten Besatzung, Einquartierung, Beschlagnahmungen. Die Besatzungsmächte befreiten die Zwangsarbeiter. Diese konnten Nordkirchen aber nicht sofort verlassen. Sie überfielen Höfe - oftmals jene, auf denen sie vorher schlecht behandelt worden waren und plünderten. Dabei gab es ebenfalls Tote.