Das Ende des zweiten Weltkrieges in der Gemeinde Nordkirchen

Am 9. Mai 1945 - also vor über 50 Jahren - endete mit der deutschen Kapitulation der 2. Weltkrieg. Für die Gemeinde Nordkirchen war der Krieg zu diesem Zeitpunkt allerdings schon einige Wochen vorbei: Am Karfreitag, dem 30. März, marschierten die Truppen der 9. US-Armee nacheinander in Nordkirchen, Südkirchen und Capelle ein. Die nationalsozialistische Schreckensherrschaft, die Millionen von Menschen Tod und Elend gebracht hatte und auch in der Gemeinde Nordkirchen ihre Opfer forderte, war damit zu-mindest vor Ort beendet

Sicherlich war Nordkirchen als traditionell katholisch geprägte Gemeinde keine Hochburg des Nationalsozialismus: Bei den Reichstagswahlen 1933 entfielen auf die "Hitlerbewegung", wie die Partei damals auch benannt wurde, nur 472 der abgegebenen Stimmen, 1273 hingegen auf das katholische "Zentrum". Den Ereignissen nach der Machtergreifung vermochte sich die Gemeinde aber nicht zu entziehen, zumal es auch hier überzeugte 'Nazis' gab, die den politischen Vorstellungen des `Führers` Geltung zu schaffen versuchten. So erließ z.B. der damalige Amtsbürgermeister Zurstiege im Herbst 1935 eine `Entschließung zur Judenfrage", die den Umgang mit jüdischen Mitbürgern und -bürgerinnen stark einschränkte und unter Strafe stellte. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass gemeindliche Aufträge nur noch an Mitglieder der Na-tionalsozialistischen Volkswohlfahrt oder der Deutschen Arbeitsfront vergeben werden sollten. Dass es sich dabei nicht nur um leere Worte handelte, zeigt ein Vorfall aus Capelle: Dort wurden bei der Ausschreibung eines neuen Schulanstriches im August 1935 zwei der Anbieter von der Gemeindevertretung ausgeschlossen, weil sie nicht der Deutschen Arbeitsfront angehörten.

Das geistige Klima in der Gemeinde wird aus heutiger Sicht recht unterschiedlich beurteilt. Während manche Alteingesessenen sehr wohl eine Atmosphäre der Bedrohung verspürten und Angst vor Denunziationen hatten, veränderte sich aus der Sicht anderer nicht sehr viel. Fest steht jedoch, dass regelmäßiger Kirchgang in jedem Fall Kritik zur Folge hatte: So überprüfte der schon erwähnte Bürgermeister Zurstiege durch wiederholte Telefonanrufe, ob sein Amtssekretär Franz Pieper sonntags die Messe besuchte, und auch in Capelle wurden Nationalsozialisten gegen Gläubige laut.

Ganz besonders einschneidende Folgen für die Gemeinde hatte jedoch der Beginn des 2. Weltkrieges. Viele Männer im wehrfähigen Alter wurden eingezogen und kehrten nie wieder zurück. Das tägliche Leben war zunehmenden Einschränkungen unterworfen; neben Versorgungsengpässen betraf dies u. a. auch das gesellschaftliche Leben. So wurden gleich nach Kriegsbeginn alle Tanzlustbarkeiten verboten. Bis zum Sommer 1946 fand keine Kirmes mehr in Nordkirchen statt, und wer sich über das Tanzverbot hinwegsetzte, wurde - wie ein Nordkirchener Wirt im Mai 1940 - gebührenpflichtig verwarnt. Ebenfalls kurz nach Kriegsbeginn, nämlich im Oktober 1939, entstanden die ersten Lager für polnische Kriegsgefangene, und zwar je eines in Nordkirchen, Südkirchen und Capelle. Später folgten Lager für französische und serbische Zwangsarbeiter. Jeder engere Kontakt mit diesen Männern, die auf den umliegenden Höfen eingesetzt wurden, war der Bevölkerung verboten. Frau Maria E. aus Südkirchen erinnert sich, dass ein in ihrem Elternhaus auf dem Obsen eingesetzter französischer Kriegsgefangener laut Vorschrift nicht einmal das Essen gemeinsam mit der Familie einnehmen durfte, sondern an einem gesonderten Tisch sitzen musste. Neben diesem deutlich sichtbaren Zeichen des Kriegsbeginnes machte sich rasch ein weitaus Verhängnisvolleres bemerkbar. Der Bombenkrieg auf Deutschland begann. Bald blieb auch Nordkirchen nicht von ihm verschont. Der erste Angriff auf das Gemeindegebiet ereignete sich im August 1940 in den Bauerschaffen Piekenbrock und Altendorf. Ihm folgten rasch weitere. Die Bilanz bei Kriegsende wies schließlich den Abwurf von 135 Spreng- und ca. 2400 Brandbomben auf das Gemeindegebiet aus, womit Nordkirchen sicherlich noch Glück im Unglück hatte. Dennoch waren neben umfangreichem Sachschaden und der Zerstörung von sechs Gebäuden auch drei Menschenleben zu beklagen. Am schlimmsten traf es dabei Capelle, während Südkirchen eher unbehelligt blieb.

Ende März 1945 näherte sich die Front Nordkirchen. Schon Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner war der Kriegslärm deutlich zu hören und versetzte die Bevölkerung in Angst und Unruhe. An ein normales Leben war zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr zu denken. Allein in den zwölf Monaten zwischen Mai 1944 und dem Kriegsende wurde 215 mal Fliegeralarm gegeben, und das tägliche Leben verlagerte sich immer mehr in die zu Bunkern umgebauten Hauskeller. Ein geregelter Schulunterricht war ebenfalls nicht mehr möglich, stattdessen kam das Lehrpersonal nun selbst in die Häuser, kontrollierte die Hausaufgaben und gab neue auf.

In der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag war es dann so weit: Etwa um Mitternacht zog ein erster Panzerspähtrupp der Amerikaner aus Richtung Lüdinghausen kommend in Nordkirchen ein. Der damals 14jährige Bernhard R. hatte, schwankend zwischen Neugier und Angst, den als Bunker genutzten elterlichen Keller verlassen und stand hinter der Haustür, als ein mit einem Maschinengewehr bewaffneter Amerikaner die Bergstraße hinaufkam und ihn entdeckte. Er wies den Jungen in gebrochenem Deutsch an, wieder ins Haus zu gehen, und erkundigte sich nach dem Verbleib des Bürgermeister Heinrich Zurstiege. Der hatte jedoch zu diesem Zeitpunkt die Gemeinde Nordkirchen längst verlassen und war zusammen mit den letzten hier verbliebenen deutschen Soldaten geflüchtet, allerdings nicht ohne zuvor angeordnet zu haben, belastendes Aktenmaterial zu vernichten.

Kurz nach Mitternacht hörte der Amtssekretär Pieper, der die Nacht angekleidet auf dem Sofa verbrachte, ebenfalls Panzergeräusche. Als er vor die Tür seines am Kirchplatz gelegenen Hauses trat, traf er auf zwei amerikanische Soldaten, die von ihm wissen wollten, ob Nordkirchen noch verteidigt würde. Er verneinte die Frage wahrheitsgemäß, musste sich jedoch solange, bis die Besatzer sich selbst davon überzeugt hatten, an eine Wand stellen und wurde mit Waffen bedroht. Danach durfte er in seine Wohnung zurückkehren, wurde aber bereits um vier Uhr wieder aus dem Haus geklingelt. Vor der Tür stand zusammen mit zwei Soldaten der im Dorf als erbitterter Gegner des Nationalsozialismus bekannte Schneider Heinrich Hölscher, dem die wichtigsten Gemeindeunterlagen und eine Liste von Parteiangehörigen ausgehändigt werden sollten. Hitlerbilder und Hakenkreuzfahnen wurden bei dieser Gelegenheit ebenfalls beschlagnahmt.

Nachdem Nordkirchen ohne Gegenwehr und damit ohne sinnloses Blutvergießen von den Besatzern eingenommen worden war, begann noch in der gleichen Nacht der Durchmarsch der amerikanischen Truppen in Richtung Südkirchen und Capelle. Doch erst in den darauffolgenden Tagen, als die US-Kriegsmaschinerie pausenlos durch den Ort rollte, bekam die Nordkirchener Bevölkerung einen Eindruck von der Übermacht des Kriegsgegners. Dem damals 15jährigen Rudolf W., der noch gegen Mitte der Karwoche auf Geheiß der örtlichen HJ-Führung in Höhe der späteren Tankstelle Spittmann Löcher ausheben sollte, aus denen die einrückenden Soldaten mit Panzerfäusten angegriffen werden sollten, ist dieser beeindruckende Aufmarsch noch lebhaft in Erinnerung. Der damalige Ortsgruppenleiter der NSDAP versuchte sogar, mächtige Kastanien aus dem Schlosspark als Panzersperren fällen zu lassen, ein ebenso sinnloses Unterfangen wie auch der Befehl an W., sich in den letzten Kriegstagen noch zu einer Art Volkssturm zu melden. Er, wie auch viele andere seiner Altersgenossen zogen es vor - manchmal allerdings erst auf Druck ihrer besorgten Eltern - sich zu verstecken statt als weiteres Kanonenfutter den sog. "Heldentod" zu sterben.

Ein Teil der amerikanischen Soldaten quartierte sich in Nordkirchen ein und bildete die örtliche Besatzungstruppe. Zu diesem Zwecke mussten vor allem die Wohnungen ehemaliger Parteigrößen sowie auch die Gasthäuser geräumt und zur Verfügung gestellt werden. Im großen und ganzen kam die Bevölkerung jedoch gut mit dem ehemaligen Feind zurecht, der sich nichts widerrechtlich aneignete, im Tausch gegen Nahrungsmittel nie mit Schokolade und anderen Luxusgütern wie Seife geizte und sich zudem als kinderlieb erwies, wie Frau Johanna T. aus Capelle damals beobachten konnte.

Etwa zeitgleich mit dem Einmarsch der Amerikaner in Nordkirchen näherten sich die feindlichen Truppen auch Südkirchen, allerdings aus Richtung Selm. Josef Q. konnte in mondheller Nacht die anrückenden Panzer aus seinem Elternhaus beobachten. Als abenteuerlustiger 13jähriger verließ er das Haus und lief zum Kriegerdenkmal, wo ein Spähwagen Halt gemacht hatte. Dort sah er unter den amerikanischen Soldaten, die ihn nach etwaigen deutschen Verteidigern ausfragten, den ersten Farbigen seines Lebens, ein nachhaltiger Eindruck, der sich im übrigen vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der Gemeinde Nordkirchen damals eingeprägt hat. Doch entgegen der Nazi-Propaganda vom "Untermenschen", dem nicht zu trauen sei, erwies sich der Soldat als recht freundlich und schenkte Q. Schokolade. Bitter wurde ihm allerdings die Rückkehr ins Elternhaus quittiert, denn die besorgten Eltern `belohnten" den eigenmächtigen Ausflug mit kräftigen Ohrfeigen.

Auch Südkirchen hatte in den letzten Kriegswochen unter heftigen Beschießungen hauptsächlich durch englische Jagdbomber zu leiden. Ein Ziel dieser Angriffe lag südlich des Schlossparks im Bereich Böckenbusch, wo sich seit einiger Zeit ein Versorgungstrupp der "Organisation Todt", einer nationalsozialistischen Bau- und Reparatureinheit, aufhielt. Bei einem dieser Angriffe in der Karwoche wurde der Landwirt W., der mit einem Wagen in freiem Feld unterwegs war, auf seinem Kutschbock angeschossen und so schwer verletzt, dass er wenige Tage darauf verstarb.

Bis zum Mittag des Gründonnerstag befanden sich zudem noch ca. 60-70 deutsche Soldaten in Südkirchen, die auf dem Rückzug waren und beabsichtigten, sowohl die Funnebrücke als auch die Molkerei und die Mühle Thering in Südkirchen zu sprengen, Mit vereinten Kräften gelang es zwei Ortsansässigen, sie von diesem Vorhaben abzubringen und außerdem zum Abzug aus dem Dorf zu bewegen. Diesem glücklichen Zustand verdankt Südkirchen ebenfalls eine Besetzung ohne Schusswechsel und Blutvergießen, zumal nun auch an vielen Häusern und am Kirchturm weiße Fahnen oder Bettlaken zum Zeichen der kampflosen Aufgabe aufgehängt wurden.

Auch in Südkirchen wurden jetzt suspekte Personen verhaftet - unter ihnen der Ortsgruppenleiter W. - und Einquartierungen vorgenommen. Betroffen von den Zwangsräumungen war u.a. das Wohnhaus von Frau Maria S., das im Gegensatz zu vielen anderen Haushalten zur damaligen Zeit bereits ein Badezimmer besaß und daher für die Besatzer besonders interessant war. Frau S. fiel die Räumung ihres Hauses nicht leicht, war sie doch Mutter zahlreicher Kinder, die alle untergebracht werden mussten. Nach sechs Wochen konnte sie jedoch in die Wohnung zurückkehren und blieb auch später von Einquartierungswünschen unbehelligt.

Obwohl Südkirchen genau wie Nordkirchen ohne Kampf und Blutvergießen von den amerikanischen Truppen besetzt worden war, herrschten dort zunächst Furcht und Unklarheit über das Verhalten, das der Kriegsgegner im Umgang mit dem nun besiegten Feind an den Tag legen würde. Aus diesem Grunde und aus Angst vor Plünderungen hob der Vater von Frau Maria E. bereits einige Tage vor dem Einrücken der Amerikaner im Garten eine Grube aus, in der er einen Koffer mit Lebensmitteln als "eiserne Ration` vergrub. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich allerdings als unbegründet. Wohl kamen am Karfreitag einige Soldaten auf den Hof, aber nur, um hier wie auch in vielen anderen Häusern nach versteckten deutschen Wehrmachtsangehörigen zu suchen. Als sie niemanden fanden, verließen sie das Anwesen wieder, ohne die Familie weiter zu behelligen.

Insgesamt verlief die Besetzung Südkirchens durch die amerikanischen Truppen für die Bevölkerung recht glimpflich. Zwar versetzte die große Zahl der anrückenden Panzer, die auch schon einmal durch einen Vorgarten rollten, viele in Angst und Schrecken, doch bald konnten die Eingesessenen beobachten, wie angebliche schwarze `Untermenschen` freundlich mit ihren Kindern spielten, ihnen Süßigkeiten schenkten und mit Händen und Füßen gestikulierend Wünsche nach Tauschgeschäften mit Lebensmitteln zum Ausdruck brachten. Doch es gab auch einzelne tragische Schicksale in der Gemeinde. Für Heinrich Z., der sich nach drei Jahren Fronteinsatz in Russland und einem Aufenthalt im Lazarett bei Bamberg im Februar auf den langen Weg nach Hause gemacht hatte und am 15. März schließlich (nach mindestens 90 km Fußmarsch) in Südkirchen ankam, waren der Krieg und seine Folgen nämlich noch lange nicht vorbei.

Da seine Verletzung noch nicht ausgeheilt war, blieb er bis Mitte der Karwoche in einem Lazarett in Ahlen, machte sich dann jedoch aus Sorge um seine Familie auf den Weg nach Südkirchen. Hier geriet er nun in eine prekäre Lage, denn als Wehrmachtsangehöriger musste er sich eigentlich den amerikanischen Truppen stellen. Schon am Tage nach der Besetzung des Dorfes drohte eine Bekanntmachung der Militärregierung allen Personen mit der möglichen Todesstrafe, die deutschen Soldaten bei der Flucht vor der Gefangennahme halfen. Verängstigte Nachbarn und Bekannte drängten ihn daher, sich freiwillig zu stellen, was Heinrich Z. widerstrebend am Ostersonntag auch tat. Er wurde verhaftet und verbrachte noch drei weitere Jahre in amerikanischer und englischer Kriegsgefangenschaft, bevor er schließlich Anfang Juni 1948 in die Heimat zurückkehren konnte. Um so härter traf es ihn dann, als er von vielen, die ihm 1945 ihre Solidarität verweigert hatten, aufgrund seines Verhaltens auch noch als `verrückter Hund` bezeichnet wurde.

Capelle hatte im Gegensatz zu Nordkirchen und Südkirchen durch die Auswirkungen des Bombenkrieges größere Schäden davongetragen. Hier ging weit über die Hälfte der auf dem Gemeindegebiet abgeworfenen Sprengbomben nieder, und hier gab es außer beträchtlichem Sachschaden auch drei Todesopfer zu beklagen: Am 8. Februar 1945 zerstörten Bomben das Haus Oestermann im Capeller Beifang. In seinen Trümmern starben das 14jährige Pflichtjahrmädchen Gertrude Schwarze und die 17 Jahre alte Else Bergmann, das Lehrmädchen der Schneidermeisterin Ida Steinhoff, die den bei dem Angriff erlittenen Verletzungen einen Monat später ebenfalls erlag.

Auch das Kriegsende selbst erlebte Capelle nicht unblutig, denn hier hielten sich trotz der Anwesenheit der vorrückenden Amerikaner noch vereinzelte deutsche Soldaten in der Nähe des stark beschädigten Bahnhofes auf, der im übrigen wohl das vorrangige Ziel der zahlreichen Angriffe gewesen sein dürfte. Der damals knapp 17jährige Josef W., der vom Arbeitsdienst in Höxter noch in den letzten Kriegstagen zur Wehrmacht abkommandiert worden war, erlebte die dramatischen Ereignisse hautnah vor Ort mit. Anstatt nämlich dem Einberufungsbefehl Folge zu leisten, trat er nach dem Zusammentreffen mit zahlreichen, auf dem Rückzug befindlichen deutschen Soldaten den Heimweg nach Capelle an, wo er in der Nacht zum Karfreitag sein Elternhaus im Beifang (bis auf einen kurze Zeit später zurückkehrenden Onkel) verlassen vorfand. Beide konnten nun beobachten, wie ein erster amerikanischer Aufklärungspanzer von der Sandstraße her kommend bei der Gaststätte Schlierkamp stoppte. Ihm folgte etwa eine halbe Stunde später eine große Menge weiterer Panzer. Fast wäre W. selber noch in das Kriegsgeschehen miteinbezogen worden, denn ein am Hause anklopfender deutscher Feldwebel, dem man Zivilkleidung zur Flucht anbot, wollte stattdessen bis zuletzt weiter kämpfen und verlangte dies auch von W., der sich allerdings standhaft weigerte.

An der Sandstraße nahm das Geschehen mittlerweile seinen verhängnisvollen Verlauf. Dort traf eine Übermacht von etwa 100 amerikanischen Panzern, die in Richtung Herbern vorrückten, unerwartet auf einen deutschen Lkw, mit dem die am Bahnhof lagernden Soldaten flüchten wollten. Dem anschließenden Feuergefecht fielen vier der Deutschen zum Opfer. Ihre Leichen brachte der damalige Capeller Bürgermeister Wilhelm Wittkamp am nächsten Tage mit einer Karre zum örtlichen Friedhof, wo sie auch begraben wurden. Doch es blieb nicht bei diesen vier Toten, denn die Capeller Eingesessenen Hermann Reckmann und Maria Beckmann, die während des Panzerangriffs aus ihren Häusern geflüchtet waren, wurden ebenfalls tödlich verletzt. Mehrere der umliegenden Häuser gerieten zudem in Brand oder erlitten Beschädigungen.

Schon bald nach den dramatischen Ereignissen des Karfreitag kehrte jedoch Ruhe in der gesamten Gemeinde Nordkirchen ein, wozu sicher auch die von den Amerikanern verhängte Ausgangssperre beitrug, die den Menschen das Verlassen ihrer Häuser nur an wenigen Stunden des Tages erlaubte. Der kämpfenden Truppe folgte zudem rasch die der Besatzer: zunächst Amerikaner, bald danach Engländer und Belgier. Nun bestimmte die englische Militärregierung unter dem Kommando des schottischen Major Feltz, der im übrigen schon bald, mit einem Schottenrock bekleidet, bei Spaziergängen mit der Herzogin Valerie von Arenberg beobachtet werden konnte, die Geschicke der Gemeinde. Man ließ u.a. den geflüchteten Bürgermeister Zurstiege verhaften und am 1. April seines Amtes entheben. Auch andere NSDAP-Funktionäre wurden amtsenthoben und z.T. verhaftet, ihr Vermögen gesperrt. Die Einrichtungsgegenstände, mit denen die Besatzungstruppen ihre Quartiere ausstatteten, stammten ebenfalls aus den Haushalten ehemaliger Nationalsozialisten.

Etwa ein Jahr später, nämlich im März 1946, konnten mit Zustimmung der Militärregierung die ersten Sitzungen der neu konstituierten Gemeindevertretungen stattfinden, bei denen auch neue Ortsbürgermeister gewählt wurden. In Südkirchen und Capelle sprachen sich die Gemeinderäte dabei einstimmig für die Wiederwahl der bisherigen Amtsinhaber Wilhelm Schulze Berge und Wilhelm Wittkamp aus, die beide der NSDAP angehört hatten. In eigens zu diesem Zweck verabschiedeten Entschließungen bescheinigten sie den ehemaligen Bürgermeistern eine lediglich formelle Parteimitgliedschaft und große Verdienste um das Gemeindewohl. Indes fruchteten diese Vorstöße nichts; als neue Bürgermeister wurden in Südkirchen Hermann Südfeld, in Capelle Heinrich Heimann und in Nordkirchen Josef Kersting gewählt, als Amtsbürgermeister schließlich der Jurist Dr. Alfred Hendrichs.

Das tägliche Leben kurz nach Kriegsende wurde von einer Reihe belastender Umstände geprägt. So ergaben sich aufgrund der angespannten Versorgungslage in ganz Deutschland Engpässe, nicht nur im Hinblick auf Güter wie z.B. dringend benötigte Baumaterialien, sondern auch und gerade bei Lebensmitteln. Zwar blieb die dörfliche Bevölkerung Nordkirchens, die schon immer Selbstversorgung aus dem eigenen Garten betrieben und oft auch eine Ziege im Stall stehen hatte, vom Hunger verschont. Doch knapp wurde es, gerade in Familien wie der von Frau Johanna T. aus Capelle, die in einem Behelfsheim auf engstem Raum lebte und sich, ihren kranken Mann und ihre fünf Kinder bei Kriegsende durch Feldarbeit ernähren musste. Trotzdem, so Frau T., sei keiner der zahlreichen hungrigen Hamsterer, die damals aus den Städten auf das Land fluteten, ohne ein Stück Brot wieder fortgeschickt worden.

Verhängnisvoller als knappe Lebensmittelvorräte, als die lange Zeit unterbrochene Strom- und Wasserversorgung machte sich indes eine weitere direkte Kriegsfolge bemerkbar: Die zahlreichen in den örtlichen Gefangenenlagern festgehaltenen Zwangsarbeiter begannen kurz nach Kriegsende, die Höfe in der Gemeinde zu überfallen und zu plündern. Da sie in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich waren und mitunter auch auf Rache gegenüber Bauern, von denen sie schlecht behandelt worden waren, sannen, gab es bei den nicht seltenen Überfällen auch Tote und Verletzte. Um sich der Plünderungen erwehren zu können, gründeten besorgte Südkirchener und Capeller deshalb Bürgerwehren, die nach der Alarmauslösung durch Nebelhörner und alte Feldtelefone zur Selbsthilfe schritten und hierdurch die Zahl der Überfälle spürbar senkten.

Schon vor Kriegsbeginn war Wohnraum im Amt Nordkirchen ein knappes Gut gewesen. Seit Mitte des Jahres 1945 erlebte die kleine Gemeinde jedoch, bedingt durch millionenfache Flucht und Vertreibung, einen derart rasanten Bevölkerungsanstieg, dass nach einer Statistik aus dem Winter 1946 jedem Einwohner lediglich noch 4,5 qm individuelle Wohnfläche zur Verfügung standen! Die Einwohnerzahl von ca. 3700 im Jahre 1939 kletterte auf 5441 im Februar 1947, ohne dass neuer Wohnraum in der Gemeinde hinzugekommen wäre. So lebten immer mehr Menschen auf immer engerem Raum, ein Zustand, der zweifellos Konflikte heraufbeschwor. Aus diesem Grunde beschloss die Amtsvertretung Nordkirchens am 2.9.1948 einstimmig, jeden weiteren Zuzug von Flüchtlingen abzulehnen. 41.4 % der Ortsansässigen waren mittlerweile Flüchtlinge und Evakuierte, 83 von ihnen konnten nicht anders als in Notquartieren untergebracht werden. Zwischen Alt- und Neubürgern, so die Entschließung, sei es zu `unerfreulichen Verschärfungen` gekommen, `Verbitterung' darüber eingetreten, dass die Gemeinde in so hohem Maße zur Unterbringung der Flüchtlinge herangezogen wurde. Sicherlich umschreiben diese Worte starke soziale Spannungen und heftige Auseinandersetzungen, zu denen es damals gekommen sein mag. Doch die Gemeinde hat ihre neue Situation im Laufe der Zeit gemeistert. Mehr noch: Durch den Zuzug vieler evangelischer Flüchtlinge entstand in Nordkirchen erstmals eine eigene evangelische Kirchengemeinde, die das Leben in der zuvor ausschließlich katholischen Region beeinflusste und auf ihre Weise prägte.

Im Jahre 1950 wurden schließlich alle Personen, die zu diesem Zeitpunkt in Nordkirchen kriegsbedingt noch als vermisst galten, erfasst. Ihre Zahl belief sich - eingeschlossen auch die Angehörigen Evakuierter - auf 170. Viele dieser Schicksale konnten nie mehr aufgeklärt werden. Gemeinsam mit allen anderen Opfern stehen sie für Not, Elend und das Leid eines verbrecherischen Krieges, in dem Millionen von Menschen starben, und sie sollten auch und gerade heute noch zu Toleranz und dauerhaftem Frieden mahnen.



(Sabine Alfing)