Umweltzerstörung für die "Schneehungrigen"Es gibt wohl nur wenige Berggruppen in den Alpen, die von moderner technischer Übererschließung so schwer beeinträchtigt sind, wie die Ötztaler Alpen. Und allein schon das, was die Werbung stolz verkündet, muß jeden umweltbewußten Menschen mit Bestürzung erfüllen. So lesen wir - um nur zwei Werbeanzeigen für das Nauderer Skigebiet und das Sommerskigebiet am Rettenbach- und Tiefenbachferner herauszugreifen - von der jüngsten und schwersten Doppelsesselbahn Österreichs", von der "höchsten Gletscherstraße Europas", von einem"höchsten Straßentunnel des Kontinents", von einer "Förderleistung von 13.000 Personen", von "30.000 Quadratmetern Parkplätze` am Gletscherrand und vom "höchsten Sommerskigebiet der Ostalpen". Und dies alles hat man natürlich nicht aus rücksichtsloser Profitgier, sondern einzig und allein aus Nächstenliebe errichtet, um den "Schneehungrigen" ein "Schaukeln von Gletscher zu Gletscher" zu ermöglichen. Allein in dem Rettenbachgebiet ist mit "zirka 40 Abfahrtskilometern die Gewähr gegeben, daß Wartezeiten der Vergangenheit angehören", und selbstverständlich sorgen "moderne, bestens in die Landschaft passende Restaurants an beiden Gletschern für das leibliche Wohl der Gäste". Selbstverständlich ist auch, daß die "Gletscherskischaukel" in einem "der schönsten Gletscherskigebiete der Ostalpen" liegt, daß sich "ausgedehnte Wandermöglichkeiten als Alternative zum Skifahren" anbieten, und daß die "Skifans" direkt mit dem Auto über die wunderschöne Panoramastraße zu den Liftanlagen des Gletscherskigebietes auffahren` können.
Gleichzeitig aber entnimmt man den Werbetexten, daß die Planer und Erschließer bis in die tiefsten Ecken ihrer Seele von der Sorge um Natur und Umwelt erfüllt sind. In Nauders beispielsweise "inkludiert" die konsequente Planung bereits die Richtlinien bis in die neunziger Jahre, vor allem unter dem Aspekt der weitmöglichsten Schonung unseres herrlichen Landschaftsbildes". Und am Retten- und Tiefenbachferner "wurden die Wunden, welche hier der gewaltigen Bauwerke wegen der Natur beigebracht wurden, fast gänzlich wieder geheilt".
All dies aber gibt es nicht nur in den Nauderer Bergen im Westen und bei Sölden im Osten der Ötztaler Alpen, sondern bald überall, wohin man in diesem Gebirge kommt. Und überall täten die Übererschließer besser, auf die naturfreundlichen Phrasen in ihren Werbeanzeigen zu verzichten denn sie sind nichts als faustdicke Lügen. Weder geschont wurde und wird in den Ötztaler Alpen die Landschaft, noch sind die Wunden geheilt, auch nicht fast. Solche Wunden können nämlich überhaupt nicht heilen, es sei denn durch eine totale Eiszeit. Daran ändern auch "Ruhezonen" nichts.
Daß die Südtiroler Seite des Gebirges weniger brutal zugerichtet wurde, ist dabei kein Trost, denn die Monsterhotels in Kurzras - mittlerweile auch zu einer katastrophalen Wirtschaftspleite geworden - und das Sommerskigebiet auf dem Hochjochferner sind schon mehr als genug.
Auf Nordtiroler Seite freilich ist es noch viel schlimmer. Dabei sollen hier der Stausee im Kauner Tal und die grauenvollen Hochspannungsleitungen über den Pillersattel und durch das Oberinntal gar nicht im Vordergrund stehen; allein was oberhalb der Waldgrenze in der Zeit nach dem "Naturschutzjahr" 1970 geschehen ist, gehört zur übelsten Ausbeutung, Zerstörung und Vermarktung von Natur und Landschaft, die man sich vorstellen kann. Weder in Schnals noch in Sölden, weder in Nauders noch am Venetberg, weder am Hochzeiger noch in Gurgl, weder im Vent, noch im Kauner Tal hat man das "herrliche Landschaftsbild" geschont. Ob Wald oder Alm, ob Fauna oder Alpenflora, ob Gletscher oder Berggipfel - für die "Schneehungrigen" (oder besser: für das große Geschäft einiger) muß alles herhalten.
Als man um 1980 in einer Art Nacht- und Nebelaktion die Gletscherstraße und das Sommerskigebiet auf dem Weißseeferner im hintersten Kauner Tal errichtete, brandete den Erschließern eine gewaltige Welle der Empörung seitens der Naturfreunde entgegen. Eine große alpine Zeitschrift prangerte mit vollem Recht diese Zerstörung eines weiteren Teiles der Ötztaler Alpen an, viele langjährige Gäste kehrten dem Kauner Tal für immer den Rücken, in zahllosen Leserbriefen kam schärfste Ablehnung zum Ausdruck. Und der Geologe Karl-Heinz Rochlitz, der die Übererschließungen im Alpenraum mit großer Sorge verfolgt, schrieb: Durch die Kauner-Tal-Erschließung wurde Tirols schönster Zirbenwald für immer zerstört, ein geobotanisch äußerst bedeutsames Gebiet für die Forschung bis zur Bedeutungslosigkeit entwertet und einer der wenigen Lebens- und Rückzugsräume für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten vernichtet. Statt dessen entsteht eine weitere Fremdenverkehrsfabrik, steril, vielleicht auch - vorübergehend - spektakulär und ansonsten nicht im geringsten anziehend.` Die Straße bis zum Gletscher und die Liftanlagen bis in über 3000 Meter Höhe wurden trotzdem gebaut.
Doch damit nicht genug. Denn Ötztal, Schnals, Oberinntal und Kauner Tal genügten immer noch nicht. Warum auch sollte das Pitztal, in dessen Hintergrund sich die Wildspitze als höchster Gipfel der Ötztaler Alpen erhebt, ungeschoren davon kommen? So wurde hier fleißig geplant, während in den anderen Gebieten bereits fleißig gebaggert oder gar schon mit den ersten roten Zahlen gekämpft wurde. Auch hier erhob sich Protest seitens der Umweltschützer, und die Abteilung Landesplanung der Tiroler Landesregierung sah in einem 1979 abgegebenen Gutachten die geplante Erschließung nicht gerade positiv: Die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten seien zwar "nicht besonders ungünstig`, aber"mittelfristig auch nicht sehr günstig".Weiters "wird der zunehmende Verkehr zur Talstation der Stollenbahn dem ganzen Tal eine nicht unerhebliche Lärmbelästigung bringen`, es sei für das Pitztal "eine völlige Umstrukturierung" zu erwarten, die Landwirtschaft würde "schwer zu leiden" haben und es sei schließlich zu erwarten, daß "durch die bauliche Entwicklung die Ursprünglichkeit des Tales weitgehend verloren gehen wird" (zit. nach Klaus Gerosa in"Bergwelt" 10/1980). Dennoch hat auch hier die Spekulation gesiegt, die Tiroler Landesregierung gab trotz der angeführten Bedenken ihre Zustimmung, und so wurde denn auch zuerst in Mittelberg mit dem Seilbahnbau und 1982 mit den Arbeiten oben auf dem Mittelbergferner begonnen. So wird man in absehbarer Zeit auch hier "Gletschern" und von einem Gipfel zum anderen "schaukeln" können. Und vor allem brauchen die Pitztaler -, so ihre Bürgermeister - "die Hochregionen nicht mehr länger jenen paar Naturschützern und Alpenvereinsleuten die zum Wochenende auf unseren Schutzhütten auftauchen, zu reservieren und selber dabei wirtschaftlich vor die Hunde zu gehen".
Fragt sich nur, was für die Menschen herausschaut, wenn sie ihre Umwelt und ihre Natur vor die Hunde gehen lassen. Oben auf der Wildspitze jedenfalls sitzt schon seit einiger Zeit ein grausiger Vogel - der Pleitegeier.