Der "Gletscherpfarrer" Franz Senn
Wessen Name mit den Ötztaler Alpen enger verbunden ist als jeder andere, ist jener des "Gletscherpfarrers" Franz Senn. Und er war nicht nur den Bergen verfallen, er erkannte auch, daß der sich anbahnende alpine Fremdenverkehr die damals wirklich vorhandene Armut im Ötztal lindern helfen konnte. Der 1831 in Längenfeld im Ötztal geborene und in Brixen zum Priester geweihte Senn trat 1861 in Vent, einem der entlegensten Weiler Tirols, seine Stelle als Kurat an. Die Betreuung seiner nur rund 50 Seelen erlaubte es Senn, während seiner elfjährigen Amtszeit in Vent an der alpinistischen Erschließung entscheidend mitzuwirken. Finailspitze, Weißseespitze, Fluchtkogel, Hochvernagl, Firmisanschneide, Kreuzspitze, Mittlerer Seelenkogel, dies sind nur die wichtigsten seiner Erstbesteigungen. Mehr jedoch als ruhmreiche Taten lag dem Kuraten das Wohl seiner Schäflein am Herzen, und er tat alles, um die Zahl der Fremden, die 1845 in Vent noch ganze acht betragen hatte, anheben zuhelfen.
Aber Senn hatte es nicht leicht, und sein Leben im Dienste der Berge und seiner Mitmenschen war von manchem schweren Schlag gekennzeichnet. Nachdem 1862 der Österreichische Alpenverein gegründet worden war, beantragte er einen bescheidenen Zuschuß für den Bau jenes Weges über das Hochjoch nach Schnals, der 150 Jahre vorher vom vorstoßenden Gletscher vernichtet worden war. Doch als der Beitrag abgelehnt wurde, ließ Senn den Weg auf eigene Faust errichten und geriet, da der Wegbau weit mehr kostete als vorhergesehen, in eine solche finanzielle Verschuldung, daß er daran sein ganzes Leben lang zu tragen hatte. Dabei hatte in Vent alles so gut begonnen schon anderthalb Jahre nach seinem Amtsantritt hatte er das Pfarrhaus, das gleichzeitig das einzige Gasthaus des Ortes war, vergrößert und die von einer Lawine zerstörte Kirche wiederaufgebaut. Kein Geringerer als der Brixner Fürstbischof Vinzenz Gasser war über das Timmelsjoch zur Einweihung des neuen Gotteshauses gekommen. Und auch eine Schutzhütte hatte Senn gleich am Anfang seiner Zeit in Vent errichtet, jene Unterkunft am Weg zur Kreuzspitze, von der noch im Abschnitt über die Schutzhütten eingehender die Rede sein wird.
Senn war aber auch außerhalb seines eigentlichen Wirkungsbereiches tätig. Zusammen mit seinem Freund Johann Stüdl aus Prag versuchte er, die zentralistische Haltung des Österreichischen Alpenvereins zu ändern und die alpine Idee auf eine breitere Grundlage zu stellen - doch diese Mühen waren vergebens. Und dann verlor der allseits beliebte und lebensfrohe Kurat seinen ergebenen Freund und Bergführer Cyprian Granbichler. Bei der Rückkehr von Schnals über das Hochjoch nach Vent am 7. November 1868 geraten die beiden auf dem riesigen Gletscher in einen schweren Schneesturm. Granbichler, mit dem Senn drei Jahre vorher die Finailspitze erstmals bestiegen hatte und der als einer der besten Bergführer des Ötztales galt, gab sein Letztes: Stundenlang kämpfte er sich durch den immer tiefer werdenden Schnee, stundenlang trotzte er dem fürchterlichen Sturm, überstand heil einen Absturz - und brachte so seinen Herrn Pfarrer gut über den endlosen Hochjochferner. Doch als das Schlimmste überwunden war und bereits die Rofenhöfe in Sicht kamen, brach er erschöpft zusammen und starb.
Wie schwer dieser Verlust Franz Senn traf, geht aus seinen an Johann Stüdl in Prag geschriebenen Worten hervor: "Ich bin untröstlich und voll Schmerz, weil ich meinen Liebsten, Teuersten verloren habe." Zudem hatte der Gang über das Hochjoch seine Gesundheit schwer angegriffen. Doch er kämpfte weiter, gründete mit Gleichgesinnten im darauffolgenden Jahr in München den Deutschen Alpenverein, führte noch ein halbes Dutzend Erstbesteigungen durch, nahm den Bau des ersten Hochjoch-Hospizes in Angriff und rief in Vent einen der beiden ersten Bergführervereine in den Ostalpen (der andere wurde im selben Jahr 1869 in Kals am Großglockner gegründet) ins Leben. Dann ließen seine Kräfte aber rasch nach. Das tückische innere Leiden, die drückende Schuldenlast, die Trauer um den verlorenen Freund, aber auch Zerwürfnisse mit den Führern und der geringe Dank, dem ihm das mittlerweile aufgeblühte Vent entgegenbrachte, veranlaßten Senn, um Versetzung anzusuchen.Erst einundvierzigjährig, seelisch und körperlich aber schwer mitgenommen, verließ er 1872 Vent und seine Berge, kam zuerst nach Nauders und schließlich nach Neustift im Stubai; hier starb er 1884 im Alter von 52 Jahren, nachdem er den Bau jenes Schutzhauses angeregt hatte, das heute noch seinen Namen trägt.
In den Ötztaler Alpen aber bewahrt der 3400 Meter hohe Sennkogel das ehrende Andenken an den großen Pionier - Heinrich Heß hat es ihm mit der Benennung des Berges gesetzt.
Selbstverständlich waren an der alpinistischen Erschließung nicht nur Franz Senn und die anderen genannten Pioniere mit den berühmt gewordenen Namen beteiligt, sondern die Größe des Gebirges und die Unzahl an Gipfeln bot bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus noch ein unerschöpfliches Betätigungsfeld für sehr viele andere kühne Bergsteiger, deren Aufzählung hier zu weit führen würde.Stellvertretend für sie alle soll nur noch Dr. Theodor Petersen genannt werden, der, wenn auch nicht hinsichtlich der Schwierigkeit der ausgeführten Erstlingstouren, so doch in bezug auf die stattliche Zahl zu den bedeutenden Erschließern der Ötztaler Alpen zu zählen ist. Über zwei Jahrzehnte, von 18 70 etwa bis um 1892, widmete er der Erkundung und Ersteigung der Ötztaler Bergwelt.Rofelewand, Verpeilspitze, Schwabenkopf, Hintere Ölgrubenspitze, Texelspitze, Roteck in der Texelgruppe und einige weitere betrat er als erster.
Und so wie Franz Senn, wurde auch Theodor Petersen mit einem Bergnamen ein Denkmal gesetzt: Die Erstbesteiger V. Hecht und M. von Dechy gaben einem 3484 Meter hohen Gipfel im Westen der Wildspitze den Namen Petersenspitze.
An dieser Stelle darf aber nicht der Bergführer vergessen werden, die, von wenigen Ausnahmenabgesehen, alle frühen Gipfelbesteigungen erst ermöglicht haben - J. Scheiber zum Beispiel, P.P. Gstrein, J. Raffeiner, Praxmarer, A. Ennemoser, Penz, S. Kirchler, G. Spechtenhauser, der bereits gewürdigte Cyprian Granbichler, der in Erfüllung der Führerpflicht sein Leben gab, und natürlich auch die Brüder Leander, Benedikt, Nikodem und Hans Klotz, die es, vor allem Leander und Benedikt, als die "Klötz von Rofen" innerhalb ihrer Zunft zu Berühmtheit gebracht haben.Alle diese Männer, die ihren "Herren" zu den großen Gipfelsiegen verhalfen, waren zwar einfache Schnalser oder Ötztaler Bauern, gleichzeitig aber als erfahrene Gamsjäger meist sehr mutige und berggewandte Steiger, wie gerade das Beispiel von der Erstbesteigung der Wazespitze belegt: Als der Kurat Senn 1869 den Führer Alois Ennemoser ausschickte, eine Anstiegsmöglichkeit auf den ebenso wild vergletscherten wie felsstarrenden Berg zu erkunden, stieg der Führer allein gleich bis zum Gipfel.