Die stärkste Vergletscherung der Ostalpen

Rund eine Million Jahre lang - allerdings mit Unterbrechungen - waren die Ötztaler Alpen so wie der ganze übrige Alpenraum unter einer ungeheuren Eisdecke begraben. Es gab keine grünen Täler, keine Wälder, und die Berggipfel schauten wie kleine dunkle Inseln aus diesem bis zu 2000 Meter mächtigen Meer aus Eis. Schließlich aber begann diese Eisdecke zu schmelzen, und vor rund 10.000 Jahren zog sich das Eis nach und nach aus unseren Tälern zurück.

Die heutige Vergletscherung der Ötztaler Alpen ist also nur noch ein kümmerlicher Rest von jener der großen Eiszeit. Dennoch gibt es in den ganzen Ostalpen keine Gebirgsgruppe, die stärker vergletschert ist als eben unsere Ötztaler. Hundertfünfzig Quadratkilometer umfaßt diese stellenweise bis zu fast 300 Meter dicke Eisfläche, das sind immerhin gut zwölf Kilometer im Quadrat oder 15.000 Hektar. Dabei ist diese Fläche im wesentlichen nahezu zusammenhängend und auf zwei große Kämme, auf den Hauptkamm und den Weißkamm, verteilt; ja am Weißkamm gibt es kaum selbständige, deutlich voneinander getrennte Gletscher, sondern eigentlich nur eine einzige, fünf Kilometer breite und 20 Kilometer lange Eisdecke, die sich über die Hochflächen dieses Kammes ausbreitet. Tagelang kann man hier über Eis wandern, ohne je größere Felszonen überqueren zu müssen. In diesem Weißkamm liegt nun auch der größte Einzelgletscher des Gebirges, der rund 18 km2 große und etwa 9 km lange Gepatschferner. Und hier liegen auch der Mittelbergferner, der dem Gepatschferner an Größe nicht allzuviel nachsieht (12 km2), der Vernagtferner (9,5 km2), der Kessel wandferner, der Taschachferner und einige weitere weniger große, aber immer noch beeindruckende.

Die Gletscher an der Nordabdachung des Hauptkammes kommen größenmäßig nicht mehr an den Gepatsch- und Mittelbergferrier heran, und sie bilden auch keine so geschlossene, plateauartige Eisdecke. Im Gegensatz zu jenen, die bereits westalpines Gepräge aufweisen, handelt es sich hier um typische Ostalpengletscher, die, meist von beachtlichen Graten oder richtigen Bergkämmen getrennt, mehr oder weniger steil und eher schmal talwärts fließen. Große, ziemlich flache Zonen gibt es aber auch hier, und der Hintereisf erner (9,6 km2), der Hochjochferner, der Schalfferner und der Gurgler Ferner letzterer ist mit 8 km der längste und mit 11 km2 auch der größte Gletscher des ötztaler Hauptkammes) erscheinen zumindest dem Berg- steiger, der in diesen Bereichen Touren ausführt, als riesig.

So lassen sich alle übrigen Gletscher unseres Gebirges, jene im Glockturmkamm, im Kauner Grat, im Geigenkamm, im Ramolkamm, in der Saldurgruppe und in der Texelgruppe mit jenen im Weiß- und Hauptkamm größenmäßig nicht vergleichen und erscheinen auf der Karte nur als einzige Firnfelder, mögen sie im Gelände auch noch so stattlich aussehen, das Landschaftsbildpositiv mitgestalten und wichtig für den Wasserhaushalt der insgesamt eher regenarmen Täler sein.

Mag nun der Gepatschferner der zweitgrößte Einzelgletscher (nach der Pasterze in den Hohen Tauern) und die gesamte Ötztaler Vereisung die größte innerhalb der Ostalpen sein, so ist sie nicht nur im Vergleich zu jener der Eiszeit, sondern auch im Vergleich zur westalpinen Vergletscherung nur klein, wo allein der Aletschgletscher zwei Drittel der gesamten Ötztaler Vergletscherung ausmacht, und die Mächtigkeit des Eises bis zu 800 Metern beträgt.Und dies gilt auch, wenn man die heutige Situation mit jener vor 130 Jahren vergleicht.

Damals nämlich, bei dem um 1850 erfolgten letzten großen Vorstoß der um 1600 begonnenen "kleinen Eiszeit", bedeckten die Gletscher der Ötztaler Alpen eine Gesamtfläche von rund 350 km2. Zwar gab es zu jener Zeit noch keine exakten Gletschermessungen, doch diese Fläche läßt sich anhand der damals entstandenen Gletschermoränen und an den bis heute vegetationslos gebliebenen Streifen entlang der Flanken der Hochtäler rekonstruieren.Seit damals nun sind die Gletscher trotz mehrerer kurzer Vorstöße ständig zurückgegangen.Um 1870 betrug die Fläche der Ötztaler Vereisung nur noch rund 220 km2', 1940 gut 170 km2 und heute, wie gesagt, rund 150 km2. Reichten damals, als die ersten Touristen unser Gebirge besuchten, die Gletscherzungen noch weit in die Täler herab, so sind sie heute vom Tal aus oft gar nicht mehr einzusehen oder lugen höchstens noch über den hohen Steilhängen der Talflanken bescheiden hervor.Der Glaziologe Finsterwalder hat ermittelt, daß die Gletscheroberfläche allein zwischen 1920 und 1950 im Mittel um 18 Meter abgesunken ist, Der Gepatschferner ist seit 1923 um einen Kilometer kürzer geworden, ebenso der Taschachferner, dessen Zungenende 1906 noch bis 2060 Meter herabreichte, heute aber nur noch bis auf 2250 Meter.Allerdings setzte ab etwa 1960 wieder ein leichtes Wachstum vieler Gletscher ein - der Kesselwandferner beispielsweise rückte zwischen 1960 und 1980 jährlich um 22 Meter vor -, doch bei manchen Gletschern hielt der Rückgang weiter an und wir sind noch sehr weit davon entfernt, nicht nur die Vereisung von 1850, sondern auch noch jene des Vorstoßes um 1920 zu erreichen.

Dieser Gletscherschwund wirkt sich auf das Landschaftsbild und auf den Wasserhaushalt ungünstig aus, und der Bergsteiger, der früher von den Schutzhütten mit wenigen Schritten am Gletscher war, muß heute dafür mühsame Strecken über steinigen Moränenschutt zurücklegen.Andererseits ist der "kleinen Eiszeit" auch wieder nicht allzu sehr nachzutrauern, versetzte sie doch zweieinhalb Jahrhunderte lang die Menschen in Angst und Schrecken.So wie im ganzen Alpenraum - z. B. Wallis und Montblanc-Gebiet - bildeten sich auch im hintersten Ötztal durch die seitlich in die Hochtäler vorstoßenden Gletscher oberhalb Vent und Gurgl gefährliche Stauseen, die einmal ruhig und langsam ausliefen und dann wieder plötzlich ausbrachen und das ganze Ötztal verheerten.Beim Rofener Eissee oberhalb Vent geschah dies wiederholt um 1600, 1678, 1680, 1847 und 1848.War der Gurgler Eissee diesbezüglich zahmer, da er sich meist nur allmählich entleerte und nur äußerst selten einige Schäden anrichtete, so lebte die Bevölkerung dennoch in ständiger Angst.Bittprozessionen zu den Gletschern wurden abgehalten, und man überlegte hin und her, wie man durch langsames Auslassen der Seen das Unheil verhindern könnte.Aber erst der Rückzug der Gletscher nach 1850 machte den mit geradezu unheimlicher Regelmäßigkeit sich wiederholenden Katastrophen ein Ende.

Die übrigen Täler wurden von derartigen Überschwemmungen zwar verschont; im Matscher Tal allerdings geschah ähnliches im Jahre 1834, als der See ausbrach, den der Saldurferner aufgestaut hatte. Abgesehen von solchen Katastrophen beeinträchtigte die jahrhundertelange Vergletscherung natürlich auch die Almwirtschaft sehr empfindlich; die vorher unvergletscherten Jöcher waren nun vereist und damit schwer begehbar, und in der Meraner Gegend mußte man schon um 1595 Weingärten in Mähwiesen umwandeln, da wegen des Temperaturrückganges die Reben nicht mehr abreiften.