Bräuche im Lebenslauf

Vorwort

In den vergangenen Jahren kann eine verstärkte Hinwendung zur Brauchpflege beobachtet werden; allerdings können viele Bräuche (Brüke) nicht mehr in unsere heutige Zeit hinübergerettet werden und sind unwiderruflich verlorengegangen. Was noch lebt oder nach oft jahrzehntelanger Unterbrechung wiederbelebt wurde, ist oft mit neuzeitlichen Ausprägungen versehen.

Bei den nachfolgenden Ausführungen soll vom weiten Feld des Brauchtums nur ein kleiner Ausschnitt angeboten werden, also z.B. nicht das Sternsingen, die Martinsfeiern, Weihnachtsbräuche und andere Feste, die sich zumeist auf das Kirchenjahr beziehen - vielmehr geht es um Bräuche im Lebenskreis der Menschen, bei Veränderungen in der Familie: von der Geburt bis zum Tod, dies beschränkt auf das Gebiet des heutigen Landkreises Coesfeld. Es sollen dabei auch Beziehungen im sozialen Raum, das Verhältnis zu den Mitmenschen und die Verwurzelung in christlicher Tradition aufgezeigt werden. Eine besonders ausgeprägte wissenschaftliche Grundlage gibt es für diese Arbeit nicht. Es ging einzig und allein darum, Bräuche zusammenzutragen, ganz gleich, ob sie bereits der Vergangenheit angehören oder noch heute - vielleicht in abgewandelter Form - bekannt sind. Gerade bei Bräuchen, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr gepflegt werden, hat der Verfasser Wert auf möglichst eingehende Beschreibung gelegt, damit sie kommenden Generationen nachvollziehbar überliefert werden können.

Bei seinen Befragungen hat der Verfasser auch festgestellt, dass Bräuche von Dorf zu Dorf unterschiedlich sein können, manchmal nur in Nuancen; auch zeigte sich, dass z. B. ein bestimmter Brauch schon im Nachbardorf nicht üblich war. Hier sehen wir das gleiche Bild wie bei der plattdeutschen Sprache, die sich im Laufe von Jahrhunderten von Dorf zu Dorf nicht einheitlich entwickelte, sondern auch Ausdrücke hervorbrachte, die in der Nachbarschaft schon unbekannt waren und sind. Dies muß kein Nachteil sein -im Gegenteil: Bräuche und Sprache zeugen von der vielgestaltigen Ausdrucks- und Gestaltungskraft der ländlichen Bewohner. Es muß daher lobend hervorgehoben werden, wenn Heimatvereine und andere interessierte Mitbürger heimatliche Kultur (Bräuche, Sprache) wieder in die Erinnerung rufen, auch und gerade in ihrer Unterschiedlichkeit Schließlich noch ein Hinweis und eine Bitte: Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit; sie ist vielmehr nur der erste Schritt hin zu einer umfassenderen Darstellung. Aus diesem Grunde nimmt der Verfasser jederzeit gern ergänzende Hinweise entgegen und ist dafür dankbar.

1. DIE GEBURT

Die Geburt eines jungen Erdenbürgers ist von alters her eng mit dem Brauchtum verbunden, auch schon in vorchristlicher Zeit Die Tatsache, dass Hausgeburten immer seltener werden - eine Entwicklung, die sich von den 1950er Jahren an verstärkte -, ist ganz gewiß ein Hauptgrund dafür, dass die Bräuche im Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes mehr und mehr in Vergessenheit gerieten. Dies fängt an mit der Beantwortung der Frage, wer die kleinen Kinder bringt, über Bräuche, die die Wöchnerin betreffen, bis hin zur sogen. "Aussegnung". Diese Schritte sollen nun im einzelnen gegangen werden.

Wer bringt die kleinen Kinder?

Im nordwestdeutschen Raum (aber auch Teilen von Bayern und Österreich) sind es ganz allgemein Storch und Hebamme, die nach dem Kinderglauben, aufgrund von Reden der Erwachsenen, als Kinderbringer benannt werden. Allerdings gibt es auch regionale Unterschiede. Im südwestlichen Münsterland (südl. Teil des Krs. Coesfeld, darüber hinaus auch in Werne und Lünen) kamen die kleinen Kinder aus dem ,Pütt". Darunter verstand man den gemauerten Steinbrunnen am Hause, aus dem das Wasser geschöpft wurde; er war zwischen 5 und 15 m tief, je nach Lage der wasserführenden Bodenschicht.

Über der Erde war dieser ,Pütt" noch etwa 1 m hoch gemauert und abgedeckt (zumeist mit Holzbrettern), damit niemand hineinfallen und zu Schaden kommen konnte.'

In Seppenrade sagten die Erwachsenen auf die Frage der heranwachsenden Kinder. "Die kleinen Kinder kommen aus dem gelben Köfferchen." Diese Erklärung und Redensweise geht darauf zurück, dass die Hebamme seinerzeit, bis ca. 1960, mit einem gelben Köfferchen unterwegs war, um Geburtshilfe zu leisten; heute allerdings leistet die Hebamme fast ausschließlich im Krankenhaus ihre Dienste. Das „gelbe Köfferchen" war eine stabile, aus Leder gefertigte Tasche in gelber Farbe; oben war eine Schiene angebracht, die das Köfferchen geschlossen hielt. Mit einem Knopfdruck konnte man diese Schiene zur Seite drücken -und schon sprang das .,gelbe Köfferchen" auf. An der Kopfseite ("vörkopps") hatte das geschlossene Köfferchen etwa die Form eines Dreieckes.

Da die Hebamme seit ca. 1960 nicht mehr ins Haus kommt, ist auch die Erklärung, die kleinen Kinder kämen aus dem „gelben Köfferchen", nicht mehr „glaubhaft" und somit hinfällig geworden. Danach folgte die Auskunft der Erwachsenen, dass der „Storch" das Neugeborene bringe (manchmal auch mit dem Zusatz, der Storch würde das Kind aus dem Brunnen holen). Um kritisch nachfragenden Kindern dies auch „beweisen" zu können, wurde der Wöchnerin ein Verband am Fuß angelegt, damit sie mit dem Hinweis darauf sagen konnte, der Storch habe ihr „ins Bein gebissen". In Coesfeld selbst war immer nur die Rede davon, die kleinen Kinder kämen aus dem ,Pütt"; in der Umgebung von Coesfeld hieß es, die "Tante X (Hebamme) met de Kinnertask" bringe die kleinen Kinder, d. h. das kleine Kind wurde von der Hebamme gleich in der "Kinnertask" mitgebracht.

Die werdende Mutter

Für die werdende Mutter gab es besondere Verhaltensregeln: Mutter und Kind sollten vor jedem nachteiligen Einfluß bewahrt bleiben. Die Achtung vor dem werdenden Leben hatte einen sehr hohen Stellenwert, besonders auch in der Behutsamkeit des Umgangs miteinander. Auf der anderen Seite - und das muß kein Widerspruch sein - gab es auch Fälle, in denen die werdende Mutter auch schwere körperliche Arbeit verrichten mußte, und zwar bis in die letzten Tage ihrer Schwangerschaft hinein, z.B. Kühe melken, Schweine füttern, Garben binden, wenn niemand anders für diese Tätigkeiten vorhanden war. Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von einer Kinderplanung sprechen kann, dann insofern, als man in der ländlichen Bevölkerung allgemein darauf sann, dass kleine Kinder möglichst im Winter geboren wurden - mit Rücksicht auf die Arbeiten in der Landwirtschaft.

Wenn eine werdende Mutter aus dem Haus ging, um z.B. Nachbarn zu besuchen oder den Nachmittags Kaffee aufs Feld zu bringen, sagte man ihr wohl: ,Du krüppst mi aower nick unner'n Droht hier!" (Du kriechst mir aber nicht unterm Draht her) - womit nachdrücklich um Vorsicht gebeten wurde. Jeglicher Schaden sollte von M Mutter und Kind ferngehalten werden. Mitfühlen und Besorgtsein können auch in plattdeutscher Sprache sehr wohl verständlich ausgedrückt werden.

Die hoffende Mutter durfte auch keine Leichen sehen oder sich sonst wie erschrecken; gerade das Erschrecken ("Verseihn" -Versehen; „Se draff sik nich verseihn, verkieken" - „Sie darf sich nicht versehen') vor etwas nicht Alltäglichem sollte tunlichst vermieden werden. Geschah es doch einmal, so bangte man darum, ob das Kind mit einer Hasenscharte, einem Blutschwamm o. ä. auf die Welt kommen könnte.

Befand sich im Hause ein geisteskrankes Familienmitglied, so wurde dieses für die Dauer der Schwangerschaft bei Verwandten odergekannten untergebracht, sofern dies irgendwie möglich war. Dieser Aufgabe fühlte sich vornehmlich die ältere Generation, d. h. die Eltern oder Schwiegereltern der werdenden Mutter, verpflichtet.

Die Geburt

In der Regel fand die Geburt zu Hause statt, und zwar bis etwa 1960; dabei hatte die Hebamme („die Hebende") eine entscheidende Aufgabe. Ärztliche Hilfe wurde nur in Ausnahmen erbeten, wenn es z.B. zu Komplikationen bei der Geburt kam bzw. diese vorherzusehen waren. Manchmal (bei normalen Geburten, wenn bereits ein Kind vorhanden war und das Haus z.B. des Kötters sehr abgelegen lag, war auch nur eine erfahrene Nachbarin zugegen. Allgemein jedoch kann man sagen, dass die werdende Mutter und die Hebamme allein waren und diese beiden das Kind zur Welt brachten. Die eine oder andere Nachbarsfrau schaute auch wohl mal gelegentlich für kurze Zeit herein, vielleicht für eine halbe oder eine Stunde.

Im Gegensatz zu heute war selbst der werdende Vater von diesem Geschehen ausgeschlossen, mußte in der Küche oder der "guten/besten Stube" auf die Dinge warten. Sein Tätigsein beschränkte sich allenfalls auf kleine Hilfsdienste, z. B. Vorsorge für heißes Wasser, Kaffeekochen, Beschäftigung mit den übrigen Kindern usw.

Auf den meisten Stellen betete der Vater vor und während der Geburt mit den älteren Kindern, wozu auch eine geweihte Kerze angezündet wurde; gebetet wurde ausschließlich zur Mutter Gottes - bis das Kind da war.

Nach der Geburt wurde den Nachbarn umgehend Bescheid gesagt, und zwar vom Vater des Kindes - so vornehmlich im südlichen Teil des Krs. Coesfeld. Aus diesem Grunde war auch ein Ansagegeld nicht bekannt, da dieses an der Orten Dritten gegeben wurde, die das Ansagen besorgten. Im nördlichen Teil des Kreises, z.B. in Billerbeck, war es Aufgabe der Hebamme, den Nachbarn die Geburt anzusagen und gleichzeitig zur Taufeeinzuladen. Für diesen Gang nahm die Hebamme einen Korb mit, in den sie die Würste und Knabbeln3 tat, die sie von den Nachbarn erhielt. ,,Ansagegeld" kam erst kurz vor dem Zweiten Weltkrieg auf.

Der Vater selbst opferte am folgenden Sonntag beim Kirchgang der Mutter Gottes oder dem hl. Antonius eine Kerze.

Die Hebamme kam zweimal am Tag zur Kindesmutter, und zwar neun Tage lang; sowohl morgens als auch abends bekam sie an einem extra gedeckten Tisch Kaffee und Kuchen - besonders wichtig war der „gute und dicke Kaffee".

Für die ganze Zeit der Betreuung erhielt die Hebamme um die Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre 15 Mark für die Geburt und dazu ein Trinkgeld zwischen 5 und 8 Mark. In den 30er und 40er Jahren waren es 30 Mark für die Geburt und ein entsprechend höheres Trinkgeld.

Bestimmte Bräuche zur Geburt eines Kindes, z. B. Böllerschießen oder Pflanzen eines Baumes, waren allgemein nicht bekannt. Allerdings mag es in einigen wenigen Fällen vorgekommen sein, dass bei der Geburt eines Hoferben in Hofnähe eine Eiche oder ein Walnußbaum gepflanzt wurde - aber dies waren Ausnahmen.

Die Wöchnerin und das Kind

Nach der Geburt gab es für die Wöchnerin viele Verhaltensregeln - mehr als für die werdende Mutter. Zunächst einmal mußte die Wöchnerin neun Tage lang streng liegen; sie durfte nicht einmal aufstehen, um zu Toilette zu gehen. Die Begründung hierfür war. Durch das Liegen sollte die junge Mutter wieder zu Kraft kommen. Allerdings gab es auch eine Ausnahme vom strikten Ruhegebot: Am 7. Tag durfte die Wöchnerin aufstehen und sich ankleiden; dies sollte aber nur eine ,grobe" sein - an einen Gang durchs Haus oder vor die Tür war dabei nicht gedacht. Am 8. Tag durfte sie eine halbe Stunde aufsein, am 9. Tag länger, aber auch an diesen beiden Tagen durfte sie das Zimmer nicht verlassen, nicht einmal zu einem Gang in die Küche.

Angetan war die Wöchnerin mit einer Nachtjacke, die vorn aufknöpfbar war (um dem Säugling zum Stillen leicht die Brust geben zu können), und mit einer weißen Nachtmütze - dies noch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Zu den Mahlzeiten erhielt die junge Mutter viel Weißbrot und Haferschleim sowie „guten Kaffee" (d. h. Bohnenkaffee).

Während der genannten neun Tage wurde die Wöchnerin wohl nur im Gesicht gründlich gewaschen, was heute nicht mehr vorstellbar ist und vermutlich auch mit ein Grund für das bis zum Ersten Weltkrieg noch viel verbreitete sog. „Kindbettfieber" war, das in nicht wenigen Fällen zum Tode der Wöchnerin führte. Die Begründung lautete einfach: „De Möes mött sik utschweeten" (,Die Mütter müssen sich ausschwitzen').

Ganz wichtig war, dass jemand - außer der Hebamme für die junge Mutter und ihr Kind, besonders aber auch für den Hausstand (z. B. die Zubereitung der Mahlzeiten und andere notwendige Verrichtungen) sorgte, solange die Kindesmutter das Bett hüten mußte. Das War die Aufgabe der „Soltmoer" („Salzmutter" Hüterin des Salzes, des einstmals Wichtigsten in einer Küche). Dieser Begriff war im Bereich Lüdinghausen bekannt, nicht jedoch in Dülmen und Coesfeld; dort hieß sie einfach „Hölp" (,Hilfe'). In der Regel war dies eine gute Nachbarin oder eine Verwandte, die in ihrem eigenen Hausstand tagsüber abkömmlich war. Der Ausdruck „Softmoer" kommt vermutlich daher, dass sie zuständig war für den reibungslosen Ablauf der verarbeiten in der Küche und für Mutter und Kind.

So wie das Salz (Hinweis auf die Küche) wichtig ist (früher sehr viel mehr als heute) für die Zubereitung der Speisen, so sollte die „Soltmoer" hier in einer so wichtigen Sache für den guten Ablauf während der neun Tage Sorge tragen.

Das Kind kam alle drei Stunden an die Brust, und zwar solange es eben ging. Dies war die Regel, von der es natürlich auch Ausnahmen gab. Danach bekam es "Päppkes", d. h. weiche Milchspeisen.

Mancherorts wurden dem Kind im 1. Lebensjahr weder die Haare gewaschen (sonst aber in der altbekannten Zinkwanne gebadet) noch die Nägel geschnitten: Ersteres wohl deshalb nicht, weil man Erkältungskrankheiten befürchtete (es gab noch keine Zentralheizungen), letzteres, weil man vermeiden wollte, dass der Säugling mit der Schere verletzt wurde. Da sich aber auf der anderen Seite das Kind durch Kratzen mit langen Fingernägeln nicht verletzen sollte, versuchte die Mutter die länger gewordenen Fingernägel abzubeißen.

Bekannt war im Lüdinghauser Raum die Aussage:

,Vörn Jaohr besnieden un geschoren, Wör biätter nich geboren:'

(,Vor einem Jahr beschnitten und geschoren, Wär besser nicht geboren.')

Hier kommt in ganz besonders nachdrücklicher Weise die Sorge und Vorsicht um das Neugeborene zum Ausdruck. Es sollte ihm ja kein Schaden zugefügt werden. Manchmal war das Scheren (Haareschneiden) auch gar nicht notwendig, weil die Haare des Säuglings im 1. Lebensjahr kaum länger wurden.

Wie ausgeführt, wusch und guckte die Hebamme in den ersten neun Tagen das Kind. Unter ,gucken" verstand man das Anziehen des Säuglings - "Dat Kind satt in'n Puck" -, "Das Kind ist fertig, gepackt/ ,angezogen': Dies soll etwas näher beschrieben werden:

Bereits geraume Zeit vor der Niederkunft hatte sich die werdende Mutter einen guten Vorrat an Tüchern zugelegt, und zwar (in der Reihenfolge der Verwendung: dünne Tücher (Nesseltücher). Bibertücher 80 x 80 cm, breite Puckwickel - zum Umwickeln (Molton - doppelseitig gerauhte, weiche Baumwollware).

Das Ganze nannte sich ,Puck" (von ,packen'). Hinter dem Kopf wurde eine Art ,Kapuze" geschlagen. Die Arme waren zwar frei, aber sonst konnte das Kind nicht strampeln, sich nicht bewegen. Heute weiß man, dass das Gegenteil wichtig ist. Ein Kind muß sich bewegen können. Das so „eingeguckte" Kind kam dann in eine Art Steckkissen („Shäk-Kussen"); mit dem ganzen Körper steckte, fest darin. Dieses Steckkissen, ein feiner Bezug aus Molton, war noch bis zum Ersten Weltkrieg üblich.

Von besonderen Geschenken des Vaters an die junge Mutter aus Anlaß der Geburt eines Kindes (z. B. Halskette, Ring, Brosche o. ä.) ist nichts bekannt.



„Dat Kraomen"

Im allgemeinen durfte die Wöchnerin erst vom 3. Tag an Besuch von Verwandten und Nachbarn empfangen. Da aber die kath. Kirche besonderen Wert darauf legte, das Kind frühestmöglich zu taufen, so war es am 3. Tage zumeist schon getauft. Dann waren Nachbarn und Verwandte schon bei der häuslichen Tauffeier dagewesen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verlor der 3. Tag an Bedeutung, weil die Taufen nach und nach später vorgenommen wurden.

Den ersten Besuch bei der jungen Mutter bezeichnete man mit „Anspriäken" („Ansprechen, Ansprache"), „Stüennenhelpen" („Helfen beim Stöhnen").

Die Taufpaten, Verwandten und Nachbarn waren es, die - bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges - der jungen Mutter „bi't Anspriäken" (beim Ansprechbesuch) mitbrachten: ein halbes Pfd. Kaffee, einen Korinthenstuten und einen Zuckerhut - so im südlichen Teil des Kreises Coesfeld; im nördlichen Teil, vor allem im Raum Billerbeck: ein Pfd. Zucker, gebackene Pflaumen, einen selbstgebackenen großen Stuten, den sog. „Kraomstuten"', und natürlich Kaffeebohnen. In Havixbeck war der Kraomstuten hingegen nicht bekannt; hier gab es statt dessen „Beschüt" (länglicher Zwieback mit viel Zucker - aus dem französischen „biscuit"). Darüber hinaus wurde bei diesem Besuch auch an das Kind gedacht: Es erhielt etwas „zum Anziehen" - wie dies heute allgemein üblich ist.

Das „Anspriäken" hatte eine recht große Bedeutung: Es kam sogar vor, dass Nachbarn, die mit der Kindesmutter verfeindet waren, zum „Anspriäken" kamen und sich dann wieder versöhnten.

Die Patenschaft

Die Paten hatten die Aufgabe, anstelle des Täuflings das Gelübde zu sprechen; neben den Eltern sorgten sie mit für die christliche Erziehung des Kindes. Vom Tage der Taufe an gehörten die Paten zum engeren Kreis der Familie (wenn sie nicht schon von Geburt dazugehörten). Dies hatte z. B. zur Folge, dass die kath. Kirche Ehen zwischen Paten und Patenkindern nicht zuließ. Es war eine besondere Ehre, eine Patenschaft angetragen zu bekommen; man sagte: „Ik mott Vatte stohn" (Ich muß Pate stehen) oder: „He het Vatte stohn!" (Er hat Pate gestanden.) Auf der anderen Seite wurde es sehr übelgenommen, wenn jemand die Annahme ablehnte. Besonders bei sog. „Muß-Ehen" war es noch bis in die 50er Jahre durchaus möglich, dass entweder Eltern oder Schwiegereltern bei der Geburt des 1. Enkelkindes die Patenschaft ausschlugen.

Bei der Auswahl der Paten war man recht vorsichtig, da diese als Vorbild für das Kind galten: auch glaubte man, dass die geistigen Eigenschaften der Paten auf das Patenkind übergehen würden. Noch bis heute hat sich die Redensart erhalten: „Dat het he van de Paten' (Das hat er von den Paten!) Über die Patenschaft wurde vor der Geburt des Kindes zwar gesprochen; aber Endgültiges wurde noch nicht vereinbart, weil die Geburt abgewartet werden mußte (ob Junge oder Mädchen). Für die Festlegung der Patenschaft gab es feste Bräuche:

Beim 1. Kind - wenn es ein Junge war wurde der Großvater väterlicherseits, und wenn es ein Mädchen war, die Großmutter mütterlicherseits Hauptpate.

Allgemein gab es 1 Hauptpaten und 1 Nebenpaten. Das Vorrecht hatten die Großeltern, in deren Haus das Kind geboren war. Der männliche Hauptpate hieß „Päd-Öhm", der weibliche „PädMöh".

Für die Nebenpaten gab es keine besonderen Regeln: Man machte dies unter sich aus, wobei man nach dem Alter vorging, d. h. je älter ein Verwandter war, desto größer war seine Aussicht, Nebenpate zu werden.

An dieser Stelle soll auch gleich angesprochen werden, wie die Paten ihr Patenkind begleiteten:

Taufgeschenke der Paten an das Kind selbst (z. B. Patenbrief, Geld o. ä.) waren allgemein nicht bekannt, wohl aber an die Mutter, die ja selbst bei der Taufe ihres Kindes in der Kirche nicht dabeisein konnte, und zwar ein Pfd. Kaffeebohnen, Zuckerhut und Korinthenstuten. Später erhielten die Eltern (anstelle des Kindes) von den Paten ein Geldgeschenk: im Jahre 1928 z. B. 10 Mark

Als erstes Patengeschenk erhielt das Patenkind i. d. R. den Tornister mit Inhalt (Tafel, Griffel, Schwamm) zur Einschulung vom Hauptpaten. Den Tornister gab es bereits zu Nikolaus (die Einschulung s.Z. erfolgte zum 1. April).

Zur Erstkommunion gab es üblicherweise eine Uhr (vom männl. Hauptpaten) und einen Anzug (blauer Bleyle-Anzug) bzw. ein Kleid (blaues Bleyle-Kleid) vom weiblichen Hauptpaten. Beides, Anzug und Kleid, mußten unbedingt In dunkelblauer Farbe sein. Dazu gaben die Paten Kränzchen und Sträußchen (für die Mädchen) und Gebetbuch (für die Jungen).

Unbedingt erwähnt werden soll auch folgender Brauch: Jedes Jahr schrieben die Kinder ihrem Paten einen Brief zu Neujahr (dies begann schon Im 1. Schuljahr). Dafür gab es dann ein Geschenk in Form von 1, 2 oder 3 Mark. Mit der Schulentlassung endete dieses Schreiben von Neujahrsbriefen. Diese Neujahrsbriefe an die Paten waren so bekannt, dass sogar (z.T vorgedruckt) in den einschlägigen Geschäften gekauft werden konnten. Es handelte sich dabei um einfache Briefbögen mit aufgedruckten Blumen o. ä. Man konnte aber solche Blumen, auch selbst aufkleben oder aufmalen. In der Volksschule wurde dieses "Neujahrbriefschreiben" sogar regelrecht geübt. Im Lesebuch für das 1. Schuljahr im Coesfelder Raum aus dem Jahre 1927 (herausgegeben vom Verein kath. Lehrerinnen) war auch ein entspr. Vers in Sütterlinschrift für einen Neujahrsbrief abgedruckt:

Ein kleines Bübchen (Mädchen) bin ich, Drum wünsch ich froh und innig

Ein glückliches Neujahr.

Und was Euch freut, das weiß ich, Wenn brav ich bin und fleißig,

Mehr als ich sonst es war. Gesundheit, Freude, Frieden,

Sei Euch von Gott beschieden Wie heut', so immerdar."

Es war auch allgemein üblich, dass den Paten die Schulzeugnisse gezeigt wurden, mit der Folge, dass bei entsprechenden Noten Lob und Tadel entgegengenommen werden mußten.

Vor der Schulentlassung gingen die Paten wohl zu den Eltern ihres Patenkindes und interessierten sich dafür, welchen Beruf es ergreifen wollte; dies wurde gemeinsam besprochen, aber nicht in dem Sinne, dass die Paten etwas bestimmen oder durchsetzen wollten, sondern mehr, um zu raten und zu helfen (z. B. bei der Suche nach einer geeigneten Lehrstelle) - zumindest aber, um ihr Interesse am weiteren Lebensweg des Patenkindes zu zeigen. Eingefügt werden soll hier noch die Regelung der Patenfrage bei der Firmung: In der Zeit zwischen 1900 und 1960 waren i. d. R. der Lehrer bzw. die Lehrerin der Volksschule auch die Firmpaten. Seit 1960 ist ein grundlegender Wandel eingetreten, wonach sehr oft die eigenen Eltern oder ältere Geschwister die Rolle des Firmpaten übernehmen.

Letzte Geschenke gaben die Paten bei der Verlobung und der Hochzeit: Zwischen den Kriegen gaben die Paten zur Hochzeit ein Geldgeschenk von 20 Mark. Es war auch selbstverständlich, dass die Paten bei diesen Familienfeiern dazugehörten.

Zu den Rechten und Pflichten der Taufpaten wäre noch zu sagen, dass sie in früheren Zeiten sehr ausgeprägt waren und auch ernst genommen wurden - besonders dann, wenn die Eltern versagten; dann halfen die Taufpaten. In erster Linie ging es darum, die Bindung an den katholischen Glauben zu festigen, wenngleich sich dies manchmal auch auf sog. Äußerlichkeiten beschränkte.



Heinz Rüschenschmidt



(Aus dem Jahrbuch 1987 des Kreises Coesfeld)